Zum Inhalt springen

Allein gegen die Epidemie

AIDS-HOCHBURG UKRAINE. Eine halbe Million Infizierte und alle acht Minuten ein weiterer. Wieso vor den Toren der EU das Virus wütet und wie ein Mann heldenhaft dagegen ankämpft.

Der Satz schlägt ein wie eine Bombe, weil er so unwirklich erscheint in dieser Umgebung. Er fällt ganz am Anfang, beim Kennenlernen, in einem eleganten Café im Zentrum von Odessa: weiße Lederbänke, teure Cocktails, Mädchen in kurzen Röcken und Männer mit dicken Brieftaschen. Sie plaudern, sie lachen, sie genießen den Sommer in der Millionenstadt am Schwarzen Meer, zwei Flugstunden hinter Wien. „Und auch sie sind infiziert“, sagt Sergej Kostin leise und lässt seinen Blick kreisen, „nicht alle natürlich, aber selbst hier, im feinen Café, sind zehn Mal so viele Menschen HIV-positiv als in jeder anderen Stadt Europas.“

AIDS – ist das nicht Afrika? Ist das nicht Armut? Ist das nicht ein Thema, das weit weg ist? In Österreich, wo sich 12.000 Menschen mit HIV infiziert haben und sich jährlich 500 neu anstecken, scheint die Angst vor Aids zu schwinden. Die Schockkampagnen von einst? Fast vergessen. Die Immunschwächekrankheit selbst? Angeblich harmloser als angenommen. Gerade der „Life Ball“ vermag noch ein bisschen Betroffenheit zu wecken.

Am Samstag wird dort ein Mann die Bühne erklimmen, der auf den ersten Blick so gar nicht zu dem schrillen Event bedanken, wenn ihm Belinda Stronach den Preis überreicht, wohl ein wenig von seiner Arbeit berichten und unter Applaus abtreten. Und keiner wird ahnen, aus welcher Welt dieser Sergej Kostin gekommen ist. Eine Welt, die hart und brutal ist, in der Aids Alltag und Ohnmacht zugleich ist. Eine Welt, die vor unserer Haustür beginnt, gleich hinter der Schengen-Grenze, in der Ukraine. Eine Welt, die von Wien weniger weit weg ist als Bregenz.

In der Aids-Hochburg. In ihr grassiert Aids als Epidemie, als Virus, der das Land im Würgegriff hält. Konservativ geschätzt haben sich bereits mehr als eine halbe Million Ukrainer angesteckt und jeden Tag kommen 180 weitere hinzu. Die Neuinfektionsrate ist so hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt und alle Versuche, die Epidemie, einzudämmen, sind bislang gescheitert.

Es ist Sergej Kostins Welt. Der stämmig wirkende 52-Jährige leitet „Way Home“. Einen Verein, ohne den die Hafenstadt Odessa, die Aids-Hochburg der Ukraine, wohl vollends verloren wäre.

Im grünen Unterleibchen und mit kurzen Hosen sitzt Kostin im Fond eines alten Kleinbusses, der über das Kopfsteinpflaster der Stadt rumpelt. „Sozialpatrouille“ nennen sie diese tägliche Fahrten durch die Stadt und deren Elend. „Lass uns mal an der Puschkin-Straße halten“, meint Roman, der vorne sitzt. Doch soweit kommen sie gar nicht, denn schon an der nächsten Kreuzung werden die Männer fündig. Drei Burschen kauern dort in der Hitze. Ihre Körper ausgemergelt, ihre Mienen ausdruckslos, ihre Zukunft aussichtslos. Aljoscha, Sergej und Sascha leben seit Jahren auf der Straße. Drei von etwa zehntausend. So ungewiss ihre genaue Zahl ist, so unklar ist auch, wie viele bereits mit HIV und der damit meist einhergehenden Tuberkulose infiziert sind.

Roman, der Sozialarbeiter, steigt aus, holt Säckchen mit Lebensmitteln, Seife, Zahnpasta und Zahnbürsten aus dem Kofferraum. Er kennt die Burschen und ihre Geschichten, die jenen des Landes so sehr gleichen. Sie handeln von Eltern, die entweder längst vom Aids weggerafft wurden oder dem Suff verfallen sind. Von Eltern, die mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem folgenden Turbokapitalismus ins Trudeln gerieten. Ihre Kinder liegen nun wie ausgespuckt vor den glitzernden Einkaufspalästen der Stadt und betteln. „Wollt ihr nicht doch mit uns kommen“, fragt Roman die drei schließlich, aber die winken nur ab – die Straße ist stärker. Sie nimmt den Kindern den Glauben ans Morgen und die Hoffnung auf ein besseres Leben.

„Nun also zur Puschkin- Straße“, wiederholt Roman und breitet einen Stadtplan aus. 64 Stellen haben er und seine Leute darauf markiert – es sind Abbruchhäuser, Fabrikskelette oder einfach Kanalschächte – allesamt verlassene Orte, an denen Straßenkinder hausen. Roman weiß, wovon er spricht, denn er war selbst jahrelang einer von ihnen. „Ich wäre dort wohl krepiert“, meint er, „wenn es Way Home nicht gegeben hätte.“ Wie Hunderte andere hat ihn Sergej Kostin von der Straße geholt, ihn im Heim des Vereins untergebracht, zur Schule geschickt und so eine Zukunft gegeben.

Im Kindergarten der Hölle. Es ist später Nachmittag, als der Bus an der Puschkin-Straße hält: Ein graues Abbruchhaus, die Fenster eingeschlagen, die Eingänge verbarrikadiert, die Fassade abgebröckelt. Roman klettert hinein, steigt über Spritzen, die in all dem Schutt neben einer schmutzigen Puppe am Boden liegen, hinauf in den ersten Stock der Baracke. „Ist hier jemand von euch“, ruft er. Bloß Belag bröselt von der Decke, sonst herrscht Stille. Er will kehrtmachen, als auf einmal ein Wimmern zu vernehmen ist. Roman folgt dem Geräusch, meint noch, es könnte von einem Tier stammen, balanciert über morsche Holzplanken und blickt plötzlich direkt in die Hölle.

In einem Zimmer liegen vier Burschen und zwei Mädchen am Boden. Es ist stickig und heiß. Wie Roboter verrichten die Kinder ihre Tätigkeiten – der Kleinste, Anatolij, zieht eine Spritze nach der anderen auf, füllt sie mit dem selbst gemachten Teufelszeug, das sie „Boltuschka“, „den Dreher“, nennen. Es sind Hustentabletten, zerstampft und mit einer Mischung aus Essig, Wasser und ein wenig Alkohol verflüssigt. Die Droge stillt den Hunger, macht gleichgültig und auch ein wenig euphorisch. Sie ist ein kurzer Trip ins Jenseits, der gerade einmal einen Euro kostet und Schuss für Schuss das zentrale Nervensystem ein Stück weiter lahmlegt. Anatolij reicht die vollen Spritzen an Sveta und Natascha. Diese klopfen nervös die Arme der Burschen ab, suchen an den hervortretenden Venen nach Einstichstellen. Und dann, dann gleiten sie ab aus dem Alptraum der ihr Leben ist, hinein in eine bessere Welt.

„Die Drogen waren der Anfang“, wird Sergej Kostin später erklären, „damals in den 90er-Jahren, als hier alles vor die Hunde ging, überschwemmten sie das Land. Auch ich nahm sie. Die Nadeln wurden weitergereicht und so begann HIV, vom dem wir alle keine Ahnung hatten, um sich zu greifen.“ Kostin, der gelernte Geologe, stieg aus, als er noch konnte, gründete den Verein und begann fortan, nach Menschen statt Steinen zu graben. Nach Menschen, die das neue System wie Strandgut anschwemmte.

Die verlorene Unschuld. Kostins „Way Home“ wuchs von einer One-Man-Show zum respektablen Verein, der mit nunmehr 100 Mitarbeitern zwar weiter ständig ums Überleben kämpft, sich aber nicht nur noch um Straßenkinder kümmert, sondern auch Jugendliche aus Problemfamilien betreut, Tageszentren errichtet, Spritzen verteilt und alles tut, um die Ausbreitung von Aids zu stoppen.

Denn auch wenn die Mehrheit im Land weiter von der „Krankheit der Junkies und Nutten“ spricht, so ist das Virus längst auch bei ihr angekommen. Bei Frauen wie Alonja und Olja etwa, die jung und hübsch sind, Babies haben und mit ihnen meist einen gemeinsamen Status teilen – und der ist positiv.

„Die Männer haben uns angesteckt“, berichten sie nun, „entweder weil sie selbst nicht wussten, dass sie das Virus haben oder uns dies einfach verschwiegen.“ Während ihre Kinder schlafen, schildern die Frauen ein System, das der Epidemie scheitert. Ein System, das notwendige Untersuchungen nicht zulässt oder unbezahlbar werden lässt, in einem Land, das seinen hunderttausenden HIV-Infizierten gerade einmal 7.657 Plätze für die so notwendige antiretrovirale Therapie und ganze 40 Klinikbetten bieten kann.

„Du musst warten, bis der nächste Patient stirbt, dann kommst Du an die Reihe, hat ein Arzt zu mir gesagt“, erinnert sich Olja, die seit fünf Jahren mit dem Virus lebt. Warten, leiden und irgendwann sterben – so sieht die Zukunft für viele Ukrainer aus, wenn nichts geschieht.

Am nächsten Tag wird klar, dass in der Puschkin-Straße etwas geschehen ist. „Die Miliz war da“, sagt Kostin, „sie hat die Kinder in die Klinik gebracht, doch der Primar hat sie sofort wieder rausgeschmissen, da sie alle angeblich gesund wären…“ Kostin ärgert sich über so viel Ignoranz, er telefoniert nun, will die Kinder retten, will weiter für sie kämpfen – wieder einmal.

Erschienen in NEWS 28/10

Ein aufrüttelndes Video und berührende Bilder aus Odessa

7 Minuten