…ist das ukrainische Wort für Hoffnung.
Vor acht Monaten durchbohrte das Projektil eines Heckenschützen den Hals der Rot-Kreuz-Helferin Olesja, 21. Sie überlebt den Anschlag auf dem Maidan nur knapp. Unser Reporter Christoph Lehermayr war damals an ihrem Krankenbett in Kiew. Kurz vor den Parlamentswahlen trifft er die Frau wieder, die heute einer zerrissenen Ukraine Mut macht.
Dort, wo die Barrikaden standen, liegen heute Nelken. Pflastersteine, die Wurfgeschoße waren, sind zu kleinen Altären aufgetürmt. Darin: die Bilder der Gefallenen. Ein Porträt reiht sich ans nächste, vom Maidan die ganze Institutska-Straße hoch. Es sind die „himmlischen Hundert“, wie sie nun genannt werden: Männer und Frauen, aus allen Teilen der Ukraine. Der Jüngste, der hier sein Leben ließ, war 19, der Älteste 82. Immer wieder bleiben Menschen stehen, blicken fassungslos auf die Fotos. Manche bekreuzigen sich, andere weinen. Olesja, eine junge Frau mit dunklem gekräuseltem Haar, starrt auf das Bild eines Burschen. Lange sagt sie gar nichts, dann bloß, „ich kannte ihn.” Gestorben am 20. Februar 2014, erschossen von Heckenschützen. Olesjas Foto, es könnte neben dem seinen stehen. Der 20. Februar, es war der dunkelste Tag der Ukraine, es war ihr zweiter Geburtstag.
Acht Monate sind seither vergangen. Die Zelte verschwunden, die Spuren der Revolution dem Alltag eines Landes am Abgrund gewichen. Den Maidan, der Platz, auf dem Olesja drei bitterkalte Monate lang ausharrte, haben sie mittlerweile frisch gepflastert. Den Russ der verbrannten Reifen, die als Barrikaden dienten, entfernt. Und die Obdachlosen und Alkoholiker, die am Ende nur noch hier hausten, vertrieben. Doch, was der Anfang einer neuen Ukraine hätte sein können, ist von tiefen Schatten, schwersten Anschuldigungen und noch größeren Geheimnissen überlagert. Eines davon quält Olesja bis heute.
Von der Provinz in ein Blutbad.
Als sie an den ersten frostigen Tagen im November des vorigen Jahres hierher kam, schien alles noch so einfach, so unschuldig. Sie, das Mädchen aus der westukrainischen Provinz, inmitten der Anfänge eines Aufbegehrens. Im Internet hatte sie schreckliche Bilder gesehen. Polizisten, die Protestierende prügelten. Auf sie einschlugen, ungehemmt und ungehindert. Olesja war damals Krankenschwester in einem kleinen Dorf. Dort, wo alle Straßen endeten, setzte sie der Bus Woche für Woche aus. Die restlichen fünf Kilometer bis zur „Krankenstation” musste sie zu Fuß gehen. Bei Regen und Wind, Kälte und Schnee. Sie verdiente 1.000 Griwna, nicht einmal 100 Euro, wovon die Hälfte für Bus und Unterkunft im Dorf draufging. Und dann diese Bilder aus dem fernen Kiew. „Sie schlugen in mir wie ein Blitz ein. Ich wusste, ich muss dorthin. Und ganz ehrlich, es fiel mir nicht schwer, das Dorf, in dem ich sonst wohl für immer festgesessen wäre, hinter mir zu lassen.”
Als sie am Maidan ankam, waren dort Hunderte, die ähnlich dachten. Die spürten, dass das korrupte System, das ihr Land in den 22 Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion, gefangen hielt, weggehörte. Aus Hunderten wurden bald Tausende, aus friedlichem Protest gewaltsame Zusammenstöße mit Sonderpolizeieinheiten. Für eine EU, in der die meisten von ihnen noch nie waren, hatten sie anfangs gekämpft. Am Ende ging es nur noch gegen Präsident Janukowitsch, den sie nun Diktator nannten.
Als das Projektil des Scharfschützen Olesja am Morgen des 20. Febers traf, verhandelten die Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen gerade mit Janukowitsch über dessen geregelten Abschied von der Macht. „Ich hörte nichts, ich spürte nichts, ich sah nur, dass da plötzlich überall Blut war.“ Es gibt ein Foto, das diesen Moment zeigt. Sie, im weißen Anorak mit dem roten Kreuz auf der Brust, ihr Handy in der Hand. „Ja umiraju”, „ich sterbe”, tippte sie noch ein. Eine Nachricht, tausende Male geshared und geliked. Aber den Tod kann man weder teilen noch mögen.
Zwei Tage später saß NEWS an ihrem Krankenbett. Olesja, sie hatte überlebt. „Ein Durchschuss”, erklärte ihr Arzt, „wenige Millimeter weiter rechts oder links und es hätte die Hauptschlagader erwischt, ein Wunder.” In der Zwischenzeit hatten sich die Ereignisse überschlagen: Janukowitsch war geflohen, die Demonstranten fanden in dessen Residenz Belege für ungeheuerliche Kleptokratie – vom goldenen Klo, bis zu den 700 Euro, die er im Monat an Medizin für seine Goldfische ausgab. Und eigentlich hätte die Geschichte hier enden können. Der Diktator gestürzt, die Ukraine auf Kurs in Richtung Europa. „Wenn alles so bleibt, wie es war”, sagte Olesja damals noch warnend am Krankenbett, „dann hätte ich auch sterben können.” Es sollte schlimmer kommen.
Mit dem Maidan begann das Sterben.
Über den Maidan rollen nun wieder Autos. In der Passage darunter bieten Händlerinnen Porträts des Feindes feil. Es ist nicht mehr Janukowitsch, dessen Bild für Fußabstreifer und gar Klopapier herhalten muss. Es ist: Wladimir Putin.
Russlands Präsident hatte bald erkannt, dass ihm ein Maidan im eigenen Land gefährlich werden konnte und die Revolution auch in der Ukraine selbst auf viele Gegner stieß. In den russisch geprägten Städten des Ostens und auf der Krim gingen schon damals Tausende gegen die EU-Ausrichtung ihres Landes auf die Straße. Der Westen blendete dies bloß geflissentlich aus. Wunderte sich in der Folge, warum es Putin so leicht fiel, als erstes die Krim zu kapern und weiter in der Kohleregion des Donbass zu zündeln. Die Revolutionäre des Maidan in Kiew, die plötzlich in Ministersesseln saßen, reihten Fehler an Fehler und machten sich mit offen zur Schau getragenem Russen-Hass Zweifler am West-Kurs des Landes zu Feinden.
Was folgte, war Krieg. Von Russland mitangezettelt und unterstützt, von der Ukraine anfangs wie gelähmt hingenommen. Bilanz bislang: 4.000 Tote, fast eine Million Vertriebene, Milliarden an Schäden im Donbass, der mittlerweile von Russland-treuen Separatisten beherrscht wird.
Und Olesja, die nicht weiß, ob sie die Zukunft fürchten oder sich doch darauf freuen soll. „Es ging alles so schnell. Als ich nach zehn Tagen das Spital verließ, war mein Land ein anderes. Und jetzt, acht Monate später, erkenne ich es kaum wieder.” Viele ihrer Freunde aus dem Westen der Ukraine wurden eingezogen. Kämpften und starben an der Front. Für den Osten eines Landes, der auch Olesja fremd ist.
„Ich weiß nicht, ob dieser Krieg richtig oder falsch ist. Aber ich weiß, dass wir nie zulassen dürfen, dass die Ukraine zu existieren aufhört, denn dann würden wir alle zu Putins Geiseln.” Sie sitzt auf einer Bank im Park. Blätter fallen herab, Laub sammelt sich. In den Händen hält sie ein Anatomie-Lehrbuch. Hier in Kiew wirkt der Krieg fern und nah zugleich. „Als alles vorüber war, wollte und konnte ich nicht zurück in mein altes Leben”, sagt sie. Nächtelang hat sie gebüffelt und gelernt, lebt zu viert in einer winzigen Unterkunft. Alles, um nun hier zu sein: An der Bohomoletz-Medizinuni von Kiew, der prestigeträchtigsten Hochschule des Landes. Erstes Semester Medizin und eine einzige Hoffnung: „Später einmal Ärztin werden, in einem friedlichen Land,das zu Europa gehört.”
Wer schoss? Das Geheimnis des Maidan.
Auch an dieser Stelle könnte die Geschichte einer jungen Frau, die es mit ihrer Tapferkeit und Tatkraft so weit brachte, eigentlich enden. Es wäre dann fast ein Märchen vom Mädchen, das auszog und half, ihr Land zu einem besseren zu machen. Aber es ist diese eine Frage, die Olesja quält, welche kein Ende zulässt. Gestellt wird sie auf dem Maidan, mit Blick auf das hohe Gebäude des „Hotel Ukraina” an dessen Spitze. „Dort”, deutet Olesja, „muss einer der Scharfschützen gesessen sein, der mich und so viele andere traf.” Wer war er? Was geschah mit ihm? Olesja schweigt, schüttelt den Kopf. Der Wind weht in diesem Moment ihr Tuch weg, legt den Blick auf die große Narbe an ihrem Hals frei. „Ich weiß es nicht.”
Damals, im Feber, war alles klar: Janukowitsch hatte den Schussbefehl erteilt, seine Schergen von der Leine gelassen, vielleicht waren auch Russen involviert. Für die Ukrainer wurde die Vorahnung, soeben ein Gewaltregime gestürzt zu haben, zur Gewissheit. Die Revolution erhielt ihre letzte Rechtfertigung. Doch schon bald stockten die Ermittlungen. Verantwortliche der Spezialeinheit seien auf die Krim geflohen, hieß es entschuldigend, Dokumente von damals vernichtet worden. Ein Faktum bleibt: „Bis heute ist kein einziger verurteilt worden”, sagt Olesja bitter. Einen anderen Gedanken will sie erst gar nicht zulassen.
Den, der als Gerücht, als Verschwörung, als unglaublicher Vorwurf, im Internet die Runde macht, für den manches Indiz spricht und der von Moskau als erwiesen angesehen wird: nämlich dass Provokateure unter den Aufständischen selbst zu den Snipern zählten. Auf Unschuldige feuerten, um den Furor gegen Janukowitsch zu vergrößern und dessen Ende zu beschleunigen. „Ich will daran nicht denken”, sagt Olesja, „ich habe in meinem Leben immer nach vorn geschaut, nie zurück. Nicht jede Lüge wird wahr, wenn man sie nur lang genug wiederholt.”
Erschienen in NEWS 43/2014
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