Er ist Europas provokantester Denker. Der Polit-Popstar Bernard-Henri Lévy drängte Frankreich einst zum Sturz von Gaddafi. Heute mobilisiert er gegen Erdogan, spricht über Kurz und Macron sowie den Antisemitismus im Islam
Das Hemd weit offen, die Mähne löwengleich, die Worte wohlgewählt und durchdacht. Der Mann ist mit seinen 69 Jahren eine Erscheinung und hat Charisma, das wird klar, als Bernard-Henri Lévy in Wien den Raum betritt. BHL nennen die Franzosen ihren Parade-Intellektuellen andachtsvoll. Er ist der Linke im Designeranzug, der geliebt oder gehasst wird, polemisiert und provoziert. Dafür erfährt er Huldigung oder kriegt auch schon mal eine Torte ins Gesicht.
Seit Jahrzehnten ist Lévy öffentliche Figur. Ein streitbarer Geist, der zu einer von der Uni Wien organisierten Antisemitismus-Konferenz angereist ist. „Jude zu sein hilft mir, Humanist zu sein“, sagt er, lehnt sich zurück, nippt am Tee und ist bereit für einen wilden Ritt durch die Weltpolitik.
Was bedeutet Wien für Sie?
Wien war Zeuge der besten und schlimmsten Momente des 20. Jahrhunderts. Ein Epizentrum der Errungenschaften des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der verwelkenden Monarchie. Und ein dunkler Alptraum im Nazismus und Antisemitismus. Immer, wenn ich nach Wien komme, habe ich diese beiden Gefühle in mir.
Verstehen Sie, warum es so lange dauerte, bevor Österreich seine Mitschuld am Nazismus bekannte?
Durchaus. Auch Frankreich brauchte lange. Die Arbeit der Erinnerung und der Aufarbeitung ist keine leichte. In manchen Teilen der Welt hat sie noch nicht einmal begonnen. Etwa bei den Arabern und den Persern, die ihren Teil der Schuld haben und sich ihr bis heute nicht stellen. Wir wissen, dass Muftis in Ägypten, dem Irak oder in Palästina Anteil an dem trugen, was im Holocaust mündete. Dieser Weg ist für jede Gesellschaft schmerzhaft. Manche stehen erst am Anfang, andere, vielleicht Österreich, sind mittendrin. Nur habe ich hier das Gefühl, und womöglich liege ich falsch, dass sich seit Beginn des Jahrtausends jene Teile des Friedhofs des Gedächtnisses, die in Österreich in den 1980er- und 90er-Jahren geöffnet wurden, langsam wieder zu schließen beginnen.
Machen Sie Kanzler Sebastian Kurz dafür verantwortlich, die FPÖ zurück in die Regierung gebracht zu haben?
Selbstverständlich mache ich Kurz diesen Vorwurf. Und ich mache auch die EU verantwortlich, das einfach hinzunehmen.
Hätten Sie sich erneut Sanktionen erwartet, auch wenn diese im Jahr 2000 nichts brachten und blamabel endeten?
Zumindest wurde damals die Wahrheit ausgesprochen und die Dinge klargestellt. Dass heute nichts geschieht, erstaunt mich. Es wundert mich auch die Reaktion der Österreicher. Ich war 2000 mit Elfriede Jelinek auf dem Heldenplatz. Damals waren dort 100.000 Menschen, die protestierten und sich in Stille schämten. Nun habe ich nichts davon gehört. Man scheint sich in der Welt, in Europa und auch in Österreich an eine Banalisierung des Schlimmen gewöhnt zu haben. Dabei ist es vor allem schlecht für Österreich, wenn drei extrem Rechte wichtige Ministerien besetzen.
Hatte Houellebecq recht?
Der Umgang Europas mit dem Islam ist eines der Themen, dem sich Lévy seit Jahren widmet. „Toleranz gegenüber Radikalen gebärt mehr Radikale“, sagte er als einer der wenigen Linken schon vor Jahren. Was unweigerlich zu Frankreichs erfolgreichstem Autor der Gegenwart führt: Michel Houellebecq, der die Dystopie der Selbstaufgabe des Westens als Roman entwarf.
40.000 Juden sind seit 2006 aus Frankreich nach Israel ausgewandert. Viele geben muslimischen Antisemitismus als Grund an. Ist Michel Houellebecqs Buch „Unterwerfung” längst Wirklichkeit?
Gerade in den von starker Zuwanderung geprägten Vierteln gibt es nur drei Möglichkeiten: sich unterwerfen, weggehen oder sich wehren. Meine Wahl ist die dritte. Es ist noch Zeit, zu kämpfen und nicht zu gehen. Houellebecq hatte insofern recht, als dass er diese unausweichliche Radikalisierung des Islam aufzeigte und vor der Tendenz des Westens warnte, sich zu unterwerfen. Und ja, es gibt unter Linken diesen Drang, Muslime als Opfer zu sehen und sie und ihren Antisemitismus zu entschuldigen. Dabei ist es nicht so einfach. Manche sind Opfer, andere nicht. Gottseidank gibt es aber viele in der Gesellschaft, auch unter den Muslimen, die bei dieser Unterwerfung nicht mitmachen.
Sie sagten selbst einmal, der Islam ist nicht antisemitisch. Ein Irrtum?
Nein, natürlich nicht, genausowenig wie der Katholizismus oder der Atheismus. Trotzdem gab es Voltaire, der Antisemit war, Kreuzritter, die so dachten. Aber ja, es gibt viele Korangläubige, die antisemitisch sind. Es ist eine Pflicht, gegen diese Interpretation des Koran zu kämpfen.

Foto: Matt Observe
Sein Libyen-Abenteuer
Lévy engagierte sich im Bosnien-Krieg, später in der Ukraine und er war es auch, der 2011 eine Schlüsselrolle im „arabischen Frühling“ spielte. In Libyen stellte er sich früh auf Seite der Rebellen und drängte Frankreichs damaligen Präsidenten Sarkozy zum Sturz von Herrscher Gaddafi.
Heute ist Libyen ein Hotspot für Dschihadisten, steht unter Kontrolle etlicher Milizen, ist ein Ort, an dem Flüchtlinge versklavt werden und Menschenrechte nichts gelten. Haben Sie Schuldgefühle?
Nein, warum? Die Dinge sind nie so hell, wie man sie sich erträumt. Ich mag diese Vergleiche nicht, aber wenn Sie mich schon zwingen: Die Lage der Menschenrechte ist heute dennoch besser als unter Gaddafi. Dschihadisten wurden in der Ära nach ihm mehr bekämpft als geduldet. Die Libyer haben nicht zugelassen, dass der IS ihr Land kontrolliert. Aber klar, die Lage der Flüchtlinge ist verheerend.
Mit Verlaub, es gibt in Libyen nicht einmal eine faktische Regierung.
Ich weiß. Aber wenn man will, finden sich schon Ansprechpartner. Das hat Präsident Emmanuel Macron bewiesen.
Mehr hätten Sie sich nicht erwartet?
Nein, ich hätte mir mehr erträumt. Demokratie ist schwierig und braucht Zeit.
Weil Sie Macron ansprachen: seine Werte bei den Franzosen sind abgestürzt. Er ist nach nicht einmal einem Jahr im Amt so unbeliebt wie sein Vorgänger Hollande, selbst Trump ist populärer. Sie unterstützten Macron. Sind auch Sie jetzt enttäuscht?
Keineswegs. Das ist Demokratie. Die Menschen haben das Recht, Ängste vor Reformen zu haben und sich eine Drosselung der Geschwindigkeit zu wünschen. Ich hoffe, Macron gibt dem nicht nach. Würde Macron nichts tun, wären seine Werte wohl besser. Handelt man, handelt man sich auch Unbeliebtheit ein, das ist normal. In einer Demokratie ist es erlaubt, seinen Unmut jeden Tag kundzutun und der Regierende hat fünf Jahre Zeit, sich aus ihm herauszuarbeiten oder abgewählt zu werden. Ein Politiker, der nur nach Umfragen regiert, ist das Gegenteil der Demokratie.
Abrechnung mit Erdogan
Wirklich emotional wird Lévy, sobald es um die Kurden geht. Dass der türkische Präsident Erdogan in ihnen Terroristen sieht und mit seiner Armee gegen sie in Syrien losschlägt, bringe ihn in die Nähe des Völkermords, sagt Lévy und fordert entschlossenes Handeln.
Präsident Erdogan wirkt immun gegenüber Kritik des Westens. Wie soll man mit ihm künftig umgehen?
Wir müssen erkennen, dass die Türkei als unser Verbündeter kein Verbündeter ist. Die Kurden sind es. Sie teilen unsere Werte, sie trugen die größte Last dabei, den IS niederzuringen. Die Türkei teilt immer weniger die Werte der Demokratie. Wir müssen daher entscheiden, wer unser Partner sein soll. Die Kurden verdienen unsere Unterstützung. Erdogan muss gewarnt und gestoppt werden. Wenn die Warnungen nichts bringen, muss die Drohung folgen, die Türkei aus der Nato auszuschließen. Wie kann jemand ein Verbündeter sein, der so unehrlich ist? Uns liegen heute Informationen vor, wonach die Türkei am Höhepunkt des Syrien-Krieges den IS unterstützte. Deren Geheimdienst lieferte ihm per Lkw gar Waffen. Auf der einen Seite hinderten die Türken also die Kurden daran, den IS zu bekämpfen, auf der anderen lieferten sie den Terroristen selbst Waffen. Kann man das von einem Verbündeten erwarten? Sicherlich nicht. Wir müssen Erdogan zwingen, in den Spiegel zu schauen und offen zu sagen, wo er steht.
Erschienen in News 08/2018