Brexit, Migration, Streit. Während die EU im Innern ächzt und wankt, wird es rund um sie rauer: da Russlands Aggressionen, dort Chinas Ambitionen. Was eine Reise mit EU-Kommissar Johannes Hahn nach Georgien über unser Europa erzählt
Noch vor nicht allzu langer Zeit glich Tiflis nachts einem schwarzen Loch. Kein Strom, weit und breit. Einfach gekappt, nachdem Georgien als eines der ersten Länder die zerfallende Sowjetunion verlassen hatte. Damals sprangen bloß bei ein paar Reichen die Generatoren an, sonst war da nichts. Dafür wurde draußen, auf den Straßen der Hauptstadt, scharf geschossen. Banden trugen offen ihre Fehden um das Wenige aus, was geblieben war. Selbst der Flughafen von Tiflis lag in tiefer Dunkelheit. Nur einige Petroleumlampen entlang der Landebahn wiesen Maschinen den Weg.
Heute steuert dort ein Flieger auf eine voll ausgestrahlte Runway zu und dockt bei einem modernen Glasgebäude an. Darin sitzt ein Mann, der 200 Nächte im Jahr nicht in seinem eigenen Bett schläft. Er hätte viel früher landen soll. Gerade eben war er noch in Serbien gewesen. Hatte in Novi Sad eine Brücke eröffnet und versucht, in den Kosovo-Konflikt Bewegung zu bringen. Dann war er in den Wirren des Wetters auf irgendeinem Flughafen hängengeblieben. Flog erst nach Frankfurt, sollte dann nach Istanbul und ist nun endlich in Tiflis. Am Airport wartet eine Limousine auf Johannes Hahn. Der heimische EU-Kommissar für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik steigt ein und gleitet über den sechsspurigen George W. Bush-Boulevard in Richtung Zentrum.
Im Wartesaal Europas
George W. Bush-Boulevard? Eine Ehre, die dem Ex-US-Präsidenten selbst in den Weiten von Texas nicht zuteil wurde, erzählt einiges über dieses Georgien. Von dessen Furcht vor dem Nachbarn Russland, seinem Kuscheln mit dem Westen. Der Balkon Europas sei dieses Land, heißt es. Von der Fläche kleiner als Bayern, ist es mit gerade einmal 3,6 Millionen Bewohnern ein Winzling und hechelt auch wirtschaftlich hinterher. Jeder Georgier produziert im Schnitt nur ein Zehntel eines Österreichers. Und trotzdem ist Georgien wichtig, ja strategisch relevant, geopolitisch essenziell, wie Leute sagen, die gern bedeutungsschwanger über Karten gebeugt stehen. Auf Russland im Norden blicken, auf das Kaukasusgebirge dazwischen und auf die drei Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan südlich davon. Im Osten, am Kaspischen Meer, gibt es reichlich Öl und Gas. Und Pipelines, die über die drei Länder in die Türkei und von dort weiter in die EU führen. Für Strategen ist das Kino im Kopf. Für die Georgier die Wirklichkeit, in der sie leben. Und die weckt Begehrlichkeiten. Von den Russen, die offene Rechnungen und alte Verbindungen in der Region haben. Von den Chinesen, die auch hier an ihrer neuen Seidenstraße basteln. Und von Europa, das sich immer ganz zart und zögerlich gibt, aber den anderen um nichts nachstehen will. Daher ist Johannes Hahn hier. Er ist der Vertreter der „soft power“, die es mit gefinkelten Gegnern zu tun kriegt. Hahn ist dabei so etwas wie ein Arzt auf Patientenbesuch. Denn Georgien sitzt im Wartesaal Europas – und der wird voller, stickiger und ungemütlicher. Auch weil er das, was Hahn den Patienten als Medizin anzubieten hat, nur mehr in kleiner werdenden Dosen verabreichen kann. Die EU als Allheilmittel büßt an Wirkungskraft ein, da sie in ihrem Innern gelähmt wirkt und wankt. Was der gerade in Salzburg über die Bühne gebrachte informelle EU-Gipfel der Staats-und Regierungschefs erneut zeigte.
Ausgelaugt und angezählt
Die Briten halten am Brexit fest, auch wenn viele längst ahnen, dass beide Seiten als Verlierer aus dem Austritt hervorgehen. Die Migrationskrise hat die Gräben zwischen West und Ost, Nord und Süd weit aufgerissen. Bei der großen Schlüsselfrage unserer Zeit reicht es längst nur mehr zu Minimalkompromissen, da sich alle misstrauisch belauern. Schon träumt Italiens neuer starker Mann, der rechte Innenminister Matteo Salvini, von einem „völlig neuen, anderen Europa“ und davon, „es gemeinsam mit Viktor Orbán zu regieren“, was auch Vizekanzler Heinz-Christian Strache begeistert. Die EU wirkt an Tagen wie diesen ausgelaugt und angezählt. Daher wundert es Kommissar Hahn kaum, wenn er vor den Regierungsgebäuden in Tiflis mehr EU-Fahnen sieht als in den meisten Hauptstädten ihrer Mitgliedsstaaten. In den 48 Stunden, die er in Tiflis ist, wird ihm keine Frage häufiger gestellt als die nach dem Datum, dem Beginn etwaiger Beitrittsverhandlungen. Und er muss immer dasselbe antworten, abwiegeln, diplomatisch sein, freundlich bleiben. „Ich bin ein Erwartungsmanager“, sagt Österreichs Kommissar in solchen Momenten gern.
Seine Mission wird klarer, sobald man das sich gemauserte Tiflis verlässt. Die IT-Startups ebenso zurückbleiben, wie all die neuen Banken und Bars, die schön renovierten Fassaden und die letzten Wolkenkratzer im Rückspiegel verschwinden. „Happy journey“, gute Reise, steht noch an der Stadtausfahrt, bevor gut eine Stunde später Gori ins Bild rückt. Es ist Stalins Stadt, der Ort, an dem der spätere Diktator zur Welt kam. Die Statue zu seinen Ehren ist inzwischen verschwunden, das Museum, welches ihn preist, geblieben. Und wer sucht, der findet auch die Stellen noch, an denen russische Bomben einschlugen. Damals, vor genau zehn Jahren, als der unwirsche georgische Präsident Micheil Saakaschwili einen Krieg mit dem großen Nachbarn vom Zaun brach.
Kurz mal fast Weltkrieg
Im Schatten der Olympischen Spiele in Peking glaubte er, sich in vollkommener Selbstüberschätzung zwei abtrünnige Gebiete zurückholen zu können: Abchasien und Südossetien, die wie Stachel im georgischen Fleisch stecken. Provokationen der anderen Seite parierte Saakaschwili mit Krieg, ließ angreifen und hoffte, die Nato, deren Beitritt in greifbarer Nähe lag, würde ihm schon helfen. Es wäre ein Weltkrieg geworden, den der erratische Georgier damals fast ausgelöst hätte, denn Russland schickte seine Truppen zur Verteidigung der Angegriffenen und drang aus Rache bis tief ins georgische Kernland vor. Saakaschwilis Buddy Bush, damals US-Präsident, aber behielt die Nerven und sah, welche Folgen seine Nato-Expansionspläne am Boden hatten. Fünf Tage führten die Russen 2008 Krieg, standen nah an Tiflis und weckten wieder Ängste, die ohnedies nie verschwunden waren.
Heute stehen an die 200 Beobachter aus 26 EU-Staaten, darunter auch Österreich, an dieser Grenze zu Südossetien, die keine sein darf. Blicken durch ihre Fernstecher hinüber auf Geisterdörfer, Stacheldrahtzäune und russische Militärbasen. Moskau hat die abtrünnigen Republiken als unabhängig anerkannt und den Konflikt eingefroren. Den Beobachtern der EU-Mission ist es zu verdanken, dass die Menschen an dieser Grenze nicht vergessen sind. „Es gibt keine diplomatischen Kanäle nach drüben, aber genügend Konflikte“, sagt Des Doyle, der Sprecher der Mission, und berichtet von Verschwundenen, Vermissten und Verschleppten. Es sind immer die einfachen Menschen, die den höchsten Preis für das Versagen der Großen bezahlen. Und es ist konkret Russland, das an dieser Stelle klarmacht, was es von einem Nato-Staat an seiner Südgrenze hält.
Für Hahn ist all das ein Balanceakt, ein Tanz im verminten Gebiet. In Wien war er einst ÖVP-Chef, später Wissenschaftsminister, seit 2010 ist er Kommissar und das Gesicht der EU bei den Nachbarn. „Wir wollen Stabilität exportieren und nicht Instabilität importieren“, lautet das Credo seiner Politik. Hinter ihm stehen weder Armeen noch Bataillone, dafür eine stärkere Waffe – die Herrschaft des Rechts. Das Vertrauen in Gerichte, die Erwartung, dass Behörden nicht korrupt sind und sie Bürger nicht zu Bittstellern machen. Das ist das verlockendste Exportgut einer EU, die versucht, den Glauben in den Rechtsstaat mit viel Geld und Beratern in diese Länder zu transferieren. Es ist das, wofür Europa bei den Menschen hier steht. Das EU-Strafverfahren gegen Viktor Orbáns Ungarn ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. In den sechs Ländern der Östlichen Partnerschaft (siehe Karte) kennt jeder einen korrupten Richter, einen Beamten, der Geld einsteckt, einen Politiker, der betrügt. Und er hofft, dass die EU dafür sorgt, dass diese Menschen weniger werden. Mit Druck, mit Geld und am Ende mit der Eintrittskarte in den erlauchten Kreis. „Früher galt es als verpönt, zu sagen, dass wir als EU Interessen haben“, gibt Hahn zu, „aber natürlich wollen wir auch aus Eigennutz, dass es diesen Ländern besser geht, dass dort der Wohlstand wächst, dass wir in unserer Nachbarschaft einen Gürtel der Prosperität haben, aus dem die Menschen nicht fliehen und mit dem wir mehr handeln können.“
In der Ukraine endete diese Annäherung vor vier Jahren im Abgrund. Nachdem der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch ein schon ausgehandeltes Abkommen mit Brüssel, wohl auf Druck Moskaus, zurückzog, stürzten ihn Massenproteste. In Folge verlor das zwischen Ost und West hin-und hergerissene Land nicht nur die Krim, sondern auch Teile des Kohlereviers Donbass. Im Krieg darüber starben bisher fast 11.000 Menschen, mehr als eine Million wurden vertrieben. Brüssel erkannte erst mit fataler Verspätung, dass man daran nicht unbeteiligt war und legte die weitere Integration der Ukraine erst einmal auf Eis. Seither spricht Hahn lieber von „maßgeschneiderten Partnerschaften, die auf die Situation jedes einzelnen Landes eingehen“. Zugleich ist er sich sicher, dass eine EU-Annäherung keine Sackgasse ist. „Im Jahr 1990 lagen Polen und die Ukraine wirtschaftlich gleichauf. Heute ist Polen sechsmal so reich wie die Ukraine.“
Die reiche Trutzburg EU?
Hahns Problem liegt nicht darin, dass der Zug der Länder in Richtung Westen langsamer würde, sondern er ihn als Lokführer ordentlich drosseln muss. Denn immer mehr Passagiere wollen nicht noch weitere Waggons angehängt sehen. Das Bild, lieber eine reiche, abgeschottete Trutzburg zu sein, gewinnt in vielen Mitgliedsstaaten Anhänger. Auch wenn es ein Zerrbild ist, eine Illusion, die sich in einer vernetzten, globalen Welt kaum aufrechterhalten lässt. Letztlich sind Weichen rasch umgelegt und Züge, die lange gen Westen fuhren, landen plötzlich in Moskau oder Peking.
70 Jahre Frieden, verrückt
Destinationen, die auf Anna, Dascha oder Jana nicht wirklich verlockend wirken. Der Traum der drei 16-jährigen Mädchen, die im Sonnenschein auf einer grünen Wiese vor weiß getünchten Häusern stehen, lautet immer noch Europa. „70 Jahre Frieden habt ihr, was für ein Wahnsinn“, sagt Anna, die Georgierin, „bei uns ist der nächste Krieg immer nur ein paar Stunden Autofahrt entfernt.“ Und auch Dascha, die aus Kiew stammt, nickt heftig. Die drei zählen zu 30 Auserwählten, die dieses Europa künftig auf dem Stundenplan stehen haben. Es ist ihr erster Tag an einer Schule, welche ihnen wie ein Traum vorkommt. Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit, ist an die Hausmauer gesprayt, daneben der europäische Sternenkranz, das Blau und Gelb der EU. Hier am Rande von Tiflis beginnt nicht nur ein neues Schuljahr, sondern eine andere Zeitrechnung. Die erste europäische Schule außerhalb der EU nimmt ihren Betrieb auf. 2.000 Jugendliche haben sich beworben und 30 aus den sechs östlichen Partnerstaaten wurden ausgewählt.
Jedes Jahr soll die Schule nun wachsen und bald als Projekt, an dem Hahns Team drei Jahre arbeitete, in weitere Länder exportiert werden. Reportern erzählen die Schüler begeistert, dass sie ab heute Europa erlernen und damit später ihre Länder besser machen wollen. Johannes Hahn ist in solchen Momenten der Stolz über das Geschaffte anzusehen. Diese Schule ist etwas Konkretes, etwas Handfestes, mehr als die Berichte und Papiere, die Empfehlungen und Entwürfe, die sein Büro sonst so verlassen. Journalisten aus der Brüsseler Blase, die ihn begleiten, berichten, dass er sich dort Status und Rang erkämpft hat, zu den einflussreichsten unter den 28 Kommissaren zählt und durchaus Lust auf eine Verlängerung des Jobs nach der EU-Wahl im Mai 2019 hätte. In seiner Ansprache zitiert Hahn Georgiens Nationaldichter Rustaweli. „Die Weisen lieben es zu lernen. Die Dummen sehen darin einen Stich ins Herz“, erkannte der schon im 12. Jahrhundert. Und auch Hahn, der bald zurück zum Flughafen eilt, wirkt so, als sei er noch nicht am Ende seiner Reise angelangt.
Erschienen in News 38/2018