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Am Grenzzaun Europas

EU-AUSSENGRENZE/UKRAINE. Pavshino – eine Reportage aus dem härtesten Flüchtlingslager des Kontinents.

Im Lager Pavshino (Fotos: Heinz Tesarek)Plötzlich ist da dichter Nebel, ein matschiger Pfad, der vor ihm liegt, und Regen, der nicht enden will. Soll Europa so aussehen? Ist er schon in der Slowakei? Jamal Attal weiß es nicht. Als der Afghane knapp drei Stunden davor aus einem klapprigen Lada geklettert ist, konnte er im Dunkel der Nacht kaum seine Hand vor den Augen erkennen. „Just run“, sagte ihm der grobschlächtige Russe am Steuer, der versprochen hatte, ihn für 1.000 Dollar über die Grenze zu bringen. Also lief der kräftige 29-Jährige los, wie so oft zuvor in den fünf Monaten seiner Flucht.

Weg aus der kriegszerstörten Heimat, wo seine Brüder und der Vater bei amerikanischen Bombardements umgekommen waren. Mit Schleppern, denen er 6.000 Dollar zahlte, nach Moskau und von dort bis in die Ukraine. Und nun das Ende, in Form eines Lichtkegels, der langsam auf ihn zukommt. Als die Grenzsoldaten etwas auf Ukrainisch rufen, wird Jamal klar, dass alles vergeblich war und er im Kreis gelaufen ist.

20.000 Verzweifelte. Wie er sind es Hunderte, die täglich daran scheitern, die Ostgrenze der Europäischen Union zu bezwingen. 20.000 Menschen, so schätzen Experten, haben allein im Vorjahr versucht, von der Ukraine nach Ungarn, Polen oder in die Slowakei und von dort aus weiter in den Westen zu gelangen. Afghanen und Afrikaner, Inder und Iraker, Pakistani und Bengalen – junge Männer, aber auch Frauen und Kinder, vereint in der Verzweiflung und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie waten im Sommer durch Flüsse, erklimmen im Winter schneebedeckte Gebirgskämme und kämpfen sich durch dichte Wälder.

„Wie viele von ihnen beim Versuch, die EU zu erreichen, aus Hunger oder vor Erschöpfung entlang der längsten Landgrenze des Kontinents sterben, weiß keiner“, erklärt die Leiterin des UN-Flüchtlingshochkommissariats in Kiew, Simone Wolken. War der Weg nach Westen schon bislang beschwerlich, so rückt die EU für die Flüchtlinge nun in noch weitere Ferne. Denn die Union schottet sich gen Osten ab. Noch vor Weihnachten sollen die neuen EU-Mitgliedsstaaten dem Schengen-Abkommen beitreten. Für Österreich bedeutet dies, dass danach die Grenzkontrollen zu den Nachbarstaaten der Vergangenheit angehören. Streng überwacht wird fortan nur noch an deren eigenen Ostgrenzen – also dort, wo die Union endet und das Heer der illegalen Migranten wartet.

Einfallstor für Einwanderer. 450 Kilometer sind es von Wien bis in jene Region, die lange als eines der Einfallstore für Einwanderer galt. Bregenz ist weiter weg als die künftige Außengrenze der EU. Hier, weit im Osten der Slowakei und nahe an den Karpaten, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Perspektiven gering sind, stand die Jagd nach Illegalen bislang nicht besonders weit oben auf der Prioritätenliste der Politiker. „Es gelang uns zwar auch früher, Jahr für Jahr Tausende illegale Einwanderer aufzugreifen“, erklärt der Leiter der ostslowakischen Grenzpolizei, Miroslav Uchnár, „aber dass die Zahl derer, die wir nicht erwischten, weitaus höher lag, ist uns schon damals bewusst gewesen.“ Was fehlte, war genügend Personal und moderne Technik, „selbst Mobiltelefone für meine Beamten sind bis vor ein paar Jahren Mangelware gewesen“, erinnert sich Uchnár.

So verwundert es wenig, dass in Brüssel bis vor kurzem die Zweifel groß waren, ob es der Slowakei gelingen würde, ihre 98 Kilometer lange Grenze zur Ukraine wirklich dichtzumachen. Scharfe Kritik übte damals auch Österreichs Innenminister Günther Platter, für den klar war, „dass nur die Garantie absoluter Sicherheit eine Schengen-Erweiterung ermöglicht.“ Aber jetzt, wenigeWochen bevor die Innenminister der EU-Staaten am 8. November über ihr Okay zu Schengen entscheiden, sitzt Uchnár entspannt in der Polizeizentrale von Sobrance, 15 Kilometer von der Grenze entfernt.

Big Brother für Polizisten. Fasziniert blickt er auf die Flachbildschirme, die seit kurzem an der Wand hängen. Auf ihnen sind gestochen scharfe Aufnahmen zu sehen – von Feldern undWiesen, Büschen und Bäumen, viel Landschaft, mehr nicht, dafür aber aktualisiert im Sekundentakt. „Beruhigend“, sagt Uchnár, sei es, dies zu beobachten, und klickt sich weiter durch die verschiedensten Kameraeinstellungen. Was er und seine Kollegen verfolgen, ist ein Big Brother für Polizisten, denn die Aufnahmen gelangen live von der Grenze in die Zentrale. 40 Kilometer lang ist jener Abschnitt, in dem während der vergangenen Monate 300 Thermo-Kameras installiert wurden. Sie sorgen für die totale Überwachung – bei Tag wie bei Nacht. So viel die vier Operatoren auch an den Geräten zoomen, bietet sich über Stunden hinweg doch bloß der Blick auf Hasen und Rehe, die ein paar Kilometer weiter munter zwischen der Slowakei und der Ukraine umherhüpfen. „Einen wirklichen Grenzzaun“, erläutert Uchnár, „gibt es nämlich nur direkt an den Straßenübergängen, überall anders vertrauen wir auf die Technik.“

Dass diese zuverlässig ist, beweist eine schrille Sirene, die plötzlich Bewegung in die Überwachungszentrale bringt. In Großaufnahme tauchen die Umrisse zweier Personen, die durch das hohe Gras kriechen, auf. „Korsár 309, bitte melden“, funkt der Operator eine der mobilen Einsatzeinheiten an, die sich ständig entlang des Grenzabschnitts bewegen, „zwei verdächtige Personen im Sektor 7/26, die in Richtung Westen unterwegs sind. Sofortige Anhaltung einleiten.“

Sackgasse Ukraine. Fast 900 Beamte, und damit fast dreimal so viele wie noch vor drei Jahren, befehligt Uchnár. Die meisten patrouillieren im gebirgigen Nordabschnitt der Grenze, in welchem keine Kameras installiert werden konnten. Zwei Beamten gelingt an diesem Abend binnen zehn Minuten der Zugriff. Die festgenommenen Moldawier werden später verdutzt zu Protokoll geben, noch nie zuvor von Kameras an der Grenze gehört zu haben. Nur wenige Stunden wird die Einvernahme der illegalen Eindringlinge dauern, dann erfolgt ihre Abschiebung in die Ukraine – in jenes Land, das einst für Flüchtlinge bloß als Durchgangsstation galt, nun aber für eine ständig größer werdende Zahl von ihnen zur Sackgasse auf dem Weg gen Europa wird.

Die vorläufige Endstation aller Aufgegriffenen liegt tief in einem Wald verborgen. Die Baracken, die dort als Internierungslager dienen, fungierten einst in der Sowjetunion als Basis für Raketen, die auf den Klassenfeind im Westen gerichtet waren. Dieser lagert heute freundschaftlich sein ungelöstes Flüchtlingsproblem aus und überlässt der Ukraine dessen Bewältigung. Jamal Attal, der Afghane, dessen Flucht an einem nebligen Morgen im Matsch endete, ist seit 55 Tagen hier – im Internierungslager Pavschino, 60 Kilometer von Major Uchnár und seiner Hightech entfernt. Mit zwölf weiteren Flüchtlingen schläft der Afghane nun in einem winzigen Zimmer, in dem es noch vor ein paar Wochen nachts aufgrund der Hitze kaum auszuhalten war und in dem es ihn nun bereits zu frösteln beginnt, lange bevor der Winter hier sein Gesicht gezeigt hat. Untertags hüllt sich Jamal wie all die anderen in einen grauen Mantel, ein Geschenk der Schweizer Armee, um nicht zu frieren, und doch kriecht die Kälte durch die nackten Füße langsam seinen Körper hoch. In Badeschlapfen kauert er im Nieselregen mit Dutzenden vor einer bröckelnden Baracke und starrt ins Leere, von Mauern und Zäunen umringt und von Soldaten bewacht – das ist seit Wochen sein Alltag.

Im Camp der Illegalen. „Das Lager in Pavschino ist weit davon entfernt, internationale Standards zu erfüllen“, kritisiert Simone Wolken vom UN-Flüchtlingskommissariat in Kiew, weiß aber auch, dass daran die Ukraine selbst nur wenig Schuld trägt. „Was fehlt, ist eine stärkere Unterstützung durch die EU“, sagt Ilja Pirchak von der regionalen Hilfsorganisation NEEKA, die in Kooperation mit der österreichischen Caritas das Nötigste für die Flüchtlinge ins Lager schafft. „Medikamente, Decken, zusätzliche Verpflegung, das können wir bereitstellen“, erzählt Pirchak, „aber daran, dass der Winter kommt, es bloß einen Arzt für mehr als 300 Insassen gibt und jegliche psychologische Betreuung fehlt – daran können auch wir nichts ändern.“

Von der Union im Stich gelassen fühlen sich viele Menschen in der Ukraine. Treten die Nachbarn im Westen erst Schengen bei, brauchen sie künftig ein Visum, um die Grenze überhaupt überqueren zu können. „Dass dieses mehr kostet, als ich mit meinen 150 Euro im Monat verdiene, ist denen in der EU wohl egal“, murrt fast jeder. Dass aber noch mehr Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Westen hier hängen bleiben werden, stellt das ohnedies arme Land vor fast unlösbare Probleme. „Pavschino ist für 210 Personen ausgerichtet“, erläutert Lagerleiter Major Andrej Douganjuk, „nun haben wir 330 hier und bald nochmehr. Wie wir diesen Ansturm bewältigen sollen, weiß ich nicht.“ Unwissen macht sich aber auch bei den Internierten breit. „Wir alle hier ahnen längst, dass es bald schwieriger wird, in die EU zu kommen“, sagt der Afghane Jamal, „aber keiner von uns wird aufhören, es zu versuchen, denn es gibt längst keinen Ort mehr, an den wir zurückkehren könnten.“ Auf Asyl in der Ukraine hofft keiner hier, doch in das Verfahren wollen sie alle dennoch gelangen, „denn dann können wir Pavschino verlassen“, erklärt ein Pakistani, „uns frei bewegen und erneut die Flucht wagen“. Die Schlepper-Mafia hat längst auf den Wandel an der Grenze reagiert und den Preis für „Komplettangebote“ erhöht – 4.000 Euro, so viel kostet derzeit die Schleppung bis nach Österreich.

Die komplette Reportage als PDF-Download

(Erschienen in NEWS 41/07)

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