TSCHECHIEN. Wie gefährlich ist Temelín? Ein Lokalaugenschein im Kern des Reaktors.
Die da oben haben schon wieder einen Störfall gehabt“, unkt man unweit der Grenze kryptisch, „denn erneut haben’s das Atommonster runterfahren müssen.“ Mit „denen da oben“ sind die Tschechen gemeint und mit dem „Atommonster“ das AKW Temelín, das 60 Kilometer nördlich der Staatsgrenze steht. Ein Reaktor, der seit Jahren für böses Blut in den zwischenstaatlichen Beziehungen sorgt, der Angst macht und nun aufs Neue Grund für blockierte Grenzen ist. 98 Störfälle wollen oberösterreichische Anti-Atom- Aktivisten bereits gezählt haben, und dennoch soll die Kollaudierung des Kraftwerks erfolgt sein, ohne die ausstehenden Sicherheitsfragen zu lösen.
Einen glatten Bruch des Melker Abkommens sehen die Aktivisten darin, denn „Tschechien hat sich kühn über Vereinbarungen hinweggesetzt“, meint der Sprecher der Atomgegner, Manfred Doppler. Tatsächlich könnten knapp sieben Jahre nach Abschluss des Vertrags die Sichtweisen über dessen Erfüllung dies- und jenseits der Grenze unterschiedlicher kaum sein.
Spaltpilz Temelín. „Punkt für Punkt haben wir die offenen Fragen abgearbeitet“, behauptet Milan Nebesár, der Sprecher des Kraftwerks, „aber gehen wir rein, und überzeugen Sie sich selbst.“ Der Mann, der Nuklearphysik studiert hat, deutet auf den in dichten Morgennebel gehüllten Meiler. 18 Jahre arbeitet er nun schon hier für den Betreiber, die staatliche CEZ, und nie zuvor gab sich diese derart offensiv. NEWS auf Inspektion im Atomkraftwerk, reinspazieren, sich umsehen, Notizen machen, Fragen stellen – undenkbar noch vor Jahren.
„Aber zuerst ein Handflächenscan bitte, denn sonst kommen Sie nicht weit.“ An der ersten Sperre geht es dann zu wie an amerikanischen Flughäfen kurz nach 9/11. Jeder Eintretende wird genau inspiziert, alles Mitgebrachte penibel gescreent damit zum Schluss das Gate passiert wird. Den Reaktor wolle man uns zeigen, dorthin, wo die abgebrannten Brennstäbe lagern, könne man uns führen. Journalistenohren werden hellhörig bei solcherlei Signalwörtern. Aber ist das nicht zu gefährlich? „Nein, keineswegs“, meint Nebesár, „denn die Gelegenheit ist günstig, der Reaktor gerade heruntergefahren.“ Die Sirenen beginnen zu surren…
Temelín-Strom in Österreich. Genau, der Störfall und das Atommonster. Nebesár lächelt, als er die Frage hört. „Nein, nicht ein Störfall ist der Grund für das Herunterfahren, sondern der routinemäßige Austausch eines Teils der Brennstoffzellen.“ Bis zur nächsten Sperre macht sich jede frühere Physikfehlstunde peinlich bemerkbar. Erneute Code-Eingabe ist nötig, um den eigentlichen Reaktorblock 1 zu betreten. Dieser ist seit dem Jahr 2000 in Betrieb, zwei Jahre später ging der zweite derartige Druckwasserreaktor ans Netz. Gemeinsam leisten sie jährlich 12.000 Megawattstunden – das entspricht etwa einem Fünftel des jährlichen tschechischen Strombedarfs.
Oder, wie Global 2000 errechnet hat, der Hälfte jener Menge, die Österreich jährlich an Strom allein aus Tschechien importiert. Da dieser weder gelb ist noch ein Mascherl trägt, bringt somit vermutlich auch Strom aus Temelín so manche heimische Birne überhaupt erst zum Glühen. „Österreichs Stromfirmen nutzen die Lücken der gesetzlichen Kennzeichnung“, erläutert die Global-2000-Energieexpertin Silva Herrmann, „um zu vermeiden, dass die Kunden das wahre Ausmaß ihrer Beteiligung am internationalen Atomstromhandel erfahren.“ Die Grenzen blockieren und gleichzeitig Atomstrom aus Tschechien importieren – eine unangenehme Wahrheit, die in Böhmen mit einiger Süffisanz in Zeitungskommentaren durchschimmert.
Klarer strahlt da schon das Atomgefahr-Zeichen, und deswegen gilt es, Vorkehrungen zu treffen. Also, Hosen runter und rein in den knallgelben Schutzanzug. Die letzte Schleuse zur innersten Sicherheitszone wird überwunden. Dosimeter baumeln nun an den Overalls der Gruppe. Sie sollen die Strahlung messen, der man im Reaktorsaal ausgesetzt ist. Der Weg dorthin führt über endlos lange Gänge, blitzblank geputzt, durch robuste, feuerfeste Türen unterbrochen. Gestalten huschen vorbei, geschäftig, betriebsam, still. Schrottreaktoren stellt man sich anders vor … Und plötzlich ist er erreicht, der Reaktorsaal: im Normalbetrieb eine absolute No-go-Area, fernüberwacht per Computer aus der Schaltzentrale. Nun aber tummeln sich hier die Ingenieure, jeder weiß, was er zu tun hat, alles hat seinen Ablauf – Homer Simpson hätte wohl keine Chance.
Achtung! Hochradioaktiv! Ein Kran zieht mithilfe eines Teleskopstabs die abgebrannten, hochradioaktiven Brennelementkassetten aus dem zehn Meter tiefen Reaktorkern heraus und transportiert sie ins Lagerbecken. Wasser, das sich aufgrund der starken Strahlung blau färbt, schirmt die Kassetten nun ab und kühlt sie. Jahre vergehen, bevor an einen Transport in ein Zwischenlager überhaupt zu denken ist, Jahrzehnte vor einer Endlagerung, von der bis heute in Europa niemand weiß, wo sie stattfinden soll.
Der Kran beschickt den Reaktorkern mit neuen Brennelementkassetten – zwei Wochen lang noch, bevor es erneut zur Kernspaltung kommen kann, dann dafür gleich 30 Milliarden Mal pro Sekunde. Aufatmen beim Blick auf den Dosimeter. 0,0 Mikrosievert, also keine Strahlung, was auch die Messung in der Sicherheitsschleuse bestätigt. Tag für Tag ist das für die 1.000 Mitarbeiter des Kraftwerks Standard. Sicherheitsbedenken scheinen sie nicht zu haben. Hegt jemand doch welche, zerstreuen sich diese spätestens am Monatsende, angesichts eines weit über dem Landesschnitt liegenden Verdiensts von 1.000 Euro.
Dutzende Störfälle. Und doch sind Bedenken angebracht. Zumindest dort, wo Radioaktivität nichts mehr verloren hat, nämlich im Sekundärkreislauf, der nächsten Station. Wird im Reaktorblock Kern- in Wärmeenergie umgewandelt, so entsteht hier aus der Wärmeenergie des Dampfs elektrische Energie. Verantwortlich dafür ist eine Turbine, die den Österreichern aus den Abendnachrichten bekannt ist. Denn deren unrunder Lauf ist für viele der gemeldeten Störfälle verantwortlich.
„Seit den Neunzigerjahren wurden hier 25 internationale Inspektionen durchgeführt“, rechtfertigt sich Physiker Nebesár, „wir haben Anregungen erhalten und diese auch umgesetzt – es gibt kein besser kontrolliertes AKW auf der Welt als Temelín – und auch kein sichereres!“ Ein Satz, der für Staunen sorgt. Fakt ist allerdings, dass das Österr. Ökologieinstitut – ein erklärter Atomkraftgegner – bereits 2001 feststellte, dass Temelín keineswegs das gefährlichste AKW Europas ist, sondern in einem Ranking, nach deutschen und französischen Kraftwerken, nur den 31. Platz belegt. Kein Persilschein – aber Versuch einer Objektivierung.
Dennoch, ein Störfall jagt medial den nächsten, ohne Ende in Sicht. „Das liegt daran“, erklärt Nebesár, „dass wir jedes Gebrechen laut Melker Vereinbarung nach Wien melden und diese Informationen an Atomgegner durchsickern, die sie dazu benützen, um Angst zu erzeugen.“ Kein anderes AKW in der Nachbarschaft meldet solche „Anomalien“ an Österreich, weshalb, so meinen die Tschechen, Temelín als einziges als solch ein „Atommonster“ betrachtet wird.
Die Temelin-Reportage als PDF (Achtung: 13 MB groß)
(Erschienen in NEWS 09/07)