Martial und rassistisch. Warum Ungarn im Staatsbankrott radikal nach rechts abdriftet.
Über der Donau steht die Sonne bereits tief, als es in einem kleinen Café unweit der Budapester Elisabeth-Brücke zu einer bizarren Begegnung kommt. Eine blonde Frau, sympathisch und eloquent wirkend, betritt das Lokal. Sie ist Bürgerrechtlerin und Universitätsdozentin, spricht mehrere Sprachen fließend und arbeitete bis vor kurzem als Frauenrechtsexpertin für die UNO.
Krisztina Morvai, 45 Jahre alt und Mutter dreier Kinder, ist eine Frau, die woanders wohl eher dem linken politischen Spektrum zuzuordnen wäre. Und hier soll sie die Fratze des modernen ungarischen Faschismus verkörpern? Zumindest ist sie die Europa- Spitzenkandidatin einer Partei, deren Chef „Zigeuner, Juden, Liberale und Globalisierer als größte Bedrohung für Ungarn“ empfindet. Die Partei heißt Jobbik, was übersetzt sowohl „die Rechten“ als auch „die Besseren“ bedeutet, und zählt zum Gefährlichsten, was ein arg gebeuteltes Ungarn zu bieten hat.
Stunden vergehen, die Sonne geht unter, und nach all den Versuchen, etwas zu rechtfertigen, erfasst Krisztina Morvai anscheinend doch eine vage Befürchtung, als sie schließlich sagt: „Bitte haben Sie keine Angst bei all dem, was Sie morgen sehen werden, all die Flaggen und Symbole, die Uniformen und den Zorn der einfachen Menschen. Haben Sie keine Angst, sondern versuchen Sie es zu verstehen …“
Angst und Apathie.
Beim Verlassen des Lokals ist es bereits dunkel. Überall ziehen Obdachlose nun ihre Decken zurecht und bereiten sich auf die hereinbrechende Nacht vor. Eine weitere Nacht, in der sie zusammengekauert in U-Bahn-Schächten liegen, in Fußgängerpassagen schlafen und in den Hauseingängen entlang der Prachtboulevards Zuflucht suchen werden. 20.000 Menschen haben allein in Budapest keine Wohnung mehr – so viel wie nirgendwo sonst in Europa. Und immer mehr Ungarn fürchten, selbst bald zu den Nächsten zu zählen, die auf der Straße landen. Angst und Apathie haben das Land erfasst.
Das Musterschüler- Image aus den Neunzigerjahren ist längst vergessen. Was folgte, war zuerst Stillstand und nun der vollkommene Absturz. Bereits im Herbst drohte der Staatsbankrott, welcher nur durch einen 20-Milliarden-Euro- Kredit von internationalen Kreditgebern abgewendet werden konnte. Seither geht es Schlag auf Schlag: Die Währung, der Forint, taumelt von einem Tiefstand zum anderen, büßte bereits 30 Prozent an Wert ein. Damit wächst die Schuldenlast von etwa einer Million Ungarn, die Fremdwährungskredite abgeschlossen haben und nun mit den Rückzahlungen immer mehr in Verzug geraten. Zudem verließen etliche internationale Investoren fluchtartig das Land, was die Arbeitslosigkeit in Richtung zehn Prozent hochschnellen ließ.
Wohin das führt, lässt sich nicht einmal 24 Stunden später auf dem Heldenplatz beobachten. Regen peitscht dort den 650 strammstehenden Männern und Frauen ins Gesicht. Zu Trommelschlägen und unter dem Schwenken verbotener Fahnen sind sie aufmarschiert und harren nun ihrer Angelobung zu Mitgliedern der „Ungarischen Garde“.
„Bereit, Blut fließen zu lassen …“
Vor eineinhalb Jahren gegründet, ist diese Garde der paramilitärische Arm der rechtsextremen Jobbik-Partei. Die insgesamt 2.000 Gardisten erinnern mit ihren schwarz-weißen Uniformen und den aufgenähten Árpád-Flaggen frappant an die Pfeilkreuzler-Faschisten – jenes von Hitler in Ungarn eingesetzte Terrorregime, dem in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs Zehntausende Juden und Roma zum Opfer fielen. „Das, was wir hier machen, ist das letzte Lebenszeichen einer Nation im Untergang“, sagt hingegen Gábor Vona, im Zivilberuf Manager bei einem Sicherheitsunternehmen und Chef von Garde wie Partei zugleich, bevor er zu einem Rundumschlag gegen „die Regierung und all jene, die unser Land an die Juden verscherbeln“ ausholt.
„Zu Diamanten einer geprügelten Nation sollt ihr deshalb werden“, brüllt er den künftigen Gardisten entgegen, „sauber, glänzend und unzerstörbar!“. Noch deutlicher wird wenig später „Gardegeneral“ Robert Kiss, der seiner Truppe einschärft, „sich bereitzuhalten, um für dieses Land zu kämpfen und im ärgsten Fall auch euer Blut dafür fließen zu lassen“. Ein eiskalter Windstoß weht nun über den Heldenplatz, jenen Ort, an dem die Ungarn ihrer glorreichen Ahnen gedenken.
Die Gegenwart wirkt da weitaus bitterer, und die Gardisten haben längst die Schuldigen dafür ausgemacht: nämlich, neben „der Regierung und den Globalisierern“, auch die etwa 500.000 meist am Rande der Gesellschaft lebenden Roma. Seit ein ungarischer Lehrer, der mit seinem Auto versehentlich ein Roma-Mädchen angefahren hatte, von einem aufgebrachten Mob auf offener Straße, vor den Augen seiner kleinen Töchter, gelyncht wurde, zeigt die Garde besonders auf dem Land Präsenz. So auch in Tatárszentgyörgy, einem Dorf inmitten der Puszta, 50 Kilometer südlich von Budapest. Dort hausen die Roma in gemauerten Baracken, umgeben von Matsch und Lehm. Im Dezember marschierte die Garde noch durch das Dorf. Zwei Monate später wurde dort das Haus des Rom Robert Czorba durch Molotowcocktails in Brand gesetzt und der Familienvater mitsamt seinem fünfjährigen Sohn erschossen, als er vor den Angreifern flüchten wollte. Von den Tätern fehlt bis heute jede Spur. Gewalt und Gegengewalt, ein Mord, der gegen den anderen aufgerechnet wird, und Roma, die bereits daran denken, selbst eine Garde zu gründen – der Beginn eines gefährlichen Kreislaufes.
„Hängt den Premier auf!“
„Das Problem besteht darin, dass die Mehrheitsparteien zu lang die Augen vor den ungelösten Fragen der Roma-Minderheit verschlossen haben und so erst den Extremisten genügend Raum boten, um mit ihren Parolen bei der Bevölkerung zu reüssieren“, stellte man im konservativen Thinktank „Budapest Analyses“ kürzlich fest. Ähnlich dürfte dies auch Jobbik-Chef Vona sehen, der von der Angelobung neuer Gardisten weitergezogen ist zur Demonstration seiner Partei auf dem zentralen Deák-Platz.
Im strömenden Regen lauschen dort bereits mehr als 5.000 Menschen den Hasstiraden eines nationalistischen Einpeitschers. Der zitiert ein Gedicht des ungarischen Volkshelden Sándor Petöfi mit dem bezeichnenden Titel „Hängt die Könige auf“. Und tatsächlich braucht es bloß Minuten, bevor die Ersten im Publikum „Hängt Gyurcsány auf!“ skandieren und damit dem sozialistischen Premier den Tod wünschen.
Jeder Fünfte im ultrarechten Lager.
Der hat spätestens seit seinem erzwungenem öffentlichen Eingeständnis, das Volk über Jahre hinweg belogen und ihm den wahren Zustand der Wirtschaft verschwiegen zu haben, jeglichen Kredit bei den Ungarn verspielt.
Krisztina Morvai, jene Frau, die so gar nicht zu den Männern in Bomberjacke und Springerstiefeln passen will, hat bereits die Bühne erklommen und vergleicht den glücklosen Premier mit Kaiser Nero. „Er, der selbst Multimillionär ist, verlangt nun von uns, den Gürtel enger zu schnallen; dabei hat er viele Ungarn so weit gebracht, dass sie sich längst keinen Gürtel mehr leisten können“, ruft sie ins Publikum und erntet frenetischen Beifall. Der Einzug ins EU-Parlament scheint Morvai sicher, und laut neuesten Umfragen stimmt jeder fünfte Ungar bereits mit Jobbiks Ideen überein. Ein Wert, der die Zukunftsängste der Mehrheit weiter steigert. „Noch lehnen alle Parteien eine Koalition mit Jobbik ab“, sagt etwa die Journalistin Ágnes Lukács, „aber wer weiß schon, wie ernst ihnen dieses Versprechen nach den Wahlen im nächsten Jahr ist – und käme Jobbik in die Regierung, dann gnade uns Gott.“
(Erschienen in NEWS 10/2009)