UNTERWEGS MIT ANGELA MERKEL. Am Sonntag wählt Deutschland. NEWS besuchte die alte und vermutlich neue Kanzlerin.
Weite Felder, endlos wirkende Alleen, dazwischen kleine Seen, die im Gelb der Sonne glänzen. Angela Merkel schwebt im Hubschrauber über Deutschland. Es ist Wahlkampf. Zwei Auftritte ringt ihr der Kalender jeden Abend ab. Heute ist Rathenow an der Reihe, eine Kleinstadt in Brandenburg, gleich hinter Berlin gelegen. Mehr als eine Stunde warten die Menschen hier nun schon auf „Angie“. Es ist ihr zweiter Bundestagswahlkampf, und er ist so völlig anders als der erste.
Damals, vor vier Jahren, war sie die Herausforderin und Gerhard Schröder der Gegner. Schröder war laut, Merkel leise. Er verhöhnte sie vor laufenden Kameras, sprach ihr jegliches Recht auf die Kanzlerschaft ab, obwohl er selbst trotz Aufholjagd bloß Zweiter geworden war. Sie blieb still und konterte den Affront nicht. Schröder war bald darauf Geschichte, Merkel Kanzlerin. Eine Kanzlerin, wie es sie in Deutschland noch nicht gegeben hat. Die erste Frau, noch dazu aus dem Osten, kinderlos, geschieden, Naturwissenschaftlerin, spröde im Auftritt, unnahbar gegenüber dem Wahlvolk. Und nun Kanzlerin? Wie konnte das gehen?
Freiwillig in den Osten. Ehrgeiz und der unbedingte Wille zum Erfolg – von früher Kindheit an waren es diese Eigenschaften, die Merkel antrieben. 1954 in Hamburg, und damit in Westdeutschland, zur Welt gekommen, entschied sich der Vater, ein evangelischer Theologe, mit der Frau und dem drei Wochen alten Kind freiwillig dorthinzugehen, von wo zuvor bereits Hunderttausende geflohen waren – in die sowjetisch besetzte Ostzone, in die spätere DDR. Dort sollte Merkel aufwachsen, eine Pfarrerstochter in einem Staat, wo Marx und Lenin als Götter galten. „Natürlich hatte sie es dort schwerer, wurde immer kritisch beäugt und musste mehr leisten als die anderen, um in diesem System eine Chance zu haben“, erläutert NEWS gegenüber ihre Biografin Margaret Heckel („So regiert die Kanzlerin“, Piper, 14,95 Euro). Heimat war ihr diese DDR nie geworden, aber Auflehnung war auch nicht angesagt.
Merkel vergrub sich in der Wissenschaft, studierte Physik, heiratete, promovierte, fand Aufnahme in der Akademie der Wissenschaft und hoffte darauf, irgendwann ins Ausland reisen zu dürfen. Sie war 34, als die Mauer fiel und sich ihr Leben für immer vollkommen verändern sollte. Sie, die Stille, die Analytikerin, wollte nun, nach Jahrzehnten des Wartens, ein Teil des Wandels werden, und wo ging das besser als in der Politik? „In der SPD waren sie ihr zu kumpelhaft, das hat sie nicht gemocht“, schildert Heckel, „also landete sie beim Demokratischen Aufbruch. Dort standen viele neue Computer rum, keiner kannte sich damit aus, also wollte sich Merkel mal nützlich machen.“Der Demokratische Aufbruch wurde bald zur CDU und Merkel zu „Kohls Mädchen“ im Ministerrang.
„Die Männermörderin“. Gerade im Westen der Republik sorgte der rasche Aufstieg der Frau mit der DDR-Frisur zuerst für Verwunderung, die bald in offene Anfeindung kippte. Kohls Kronprinzen wollten nicht akzeptieren, dass nach jahrelanger Ochsentour diese Frau ohne Vergangenheit an ihnen vorbeizog. „Doch letztlich hat Merkel das getan, was sie immer tut: Dinge aussitzen und Attacken ins Leere laufen lassen“, so Heckel. Nachdem Kohl über die Spendenaffäre gestolpert war, sollte sie 2000 zuerst die Spitze der Partei und fünf Jahre später auch jene des Staates erklimmen. Merkel war angekommen, die Zeit der Schmähungen ein für alle Mal vorbei. Doch was macht sie mit der Macht?
„Zu wenig“, meint Dirk Kurbjuweit, der das Berliner Büro des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ leitet: „In der Klima-Debatte bewies sie zwar anfangs Mut, vernachlässigte das Thema aber, sobald es nicht mehr populär war.“ Und gerade in der Krise vermisst der einflussreiche Journalist Führung: „Merkel hat sich oft versteckt, sie hat es nie riskiert, unbeliebt zu werden. Sie wollte durchkommen, sich eine zweite Kanzlerschaft sichern.“ Ob das die Menschen im kleinen Rathenow auch so sehen? In der einzigen Buchhandlung des Ortes rittern Bildbände über die Geschichte und das Leben in der DDR mit den Ansichten der überzeugten Kommunistin Sarah Wagenknecht zum Finanzcrash um die vorderen Verkaufsränge. Die Krise ist in der brandenburgischen Provinz bereits angekommen, auf Angela Merkel heißt es hingegen noch warten.
2.000 Menschen füllen den Vorplatz einer ehemaligen Fabrik. Zu DDR-Zeiten galt der Ort als Hochburg der Optik-Industrie, doch viele der Firmen, in denen einst Brillen vom Fließband liefen, stehen heute leer. Fast jeder Dritte hat die Stadt seit der Wende verlassen, und nun, nach einigen Jahren der Besserung, liegt die Arbeitslosigkeit wieder bei 20 Prozent. Ein Aufschwung sieht anders aus. Petra Zieger hat die Bühne erklommen. Sie ist sehr blond und sehr laut. Eine Rockröhre, eine Schlagersängerin, die einst durch die ganze DDR tingelte und nun wohl auch dank Botox ihre persönliche Wende bewältigt hat. „Superfrau“ heißt das Lied, zu dem Merkel sich ihren Weg nach vorne bahnt. Plötzlich ist sie da, schüttelt ein paar Hände, gibt ein, zwei Autogramme und steht schon neben dem sich artig verbeugenden Schlagersternchen. Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher wohl kaum sein könnten.
Einen Pflaumenkuchen für den Professor. Zu viel Aufmerksamkeit, der große Auftritt, die riesige Eskorte, all diese Insignien der Macht, die vielleicht einem Berlusconi, einem Sarkozy oder einem Obama insgeheim schmeicheln mögen, für Angela Merkel sind sie bloßes Beiwerk, ein notwendiges Übel. Auch auf das betont lockere Geplaudere vor ihrer Rede würde sie wohl lieber verzichten. Aber da die Wählerschaft zumindest nach ein wenig Privatem von „Angie“ verlangt, muss diese erzählen, dass sie ihrem Mann, dem angesehenen Chemie-Professor Joachim Sauer, „wenn er denn zuhause ist, auch das Frühstück“ macht und ihm am Wochenende, „wenn denn Zeit bleibt, auch mal einen Pflaumenkuchen“ backt.
Nach so viel Küchengeplauder ist die Politik dran, und die Christdemokratin Merkel mutiert Satz für Satz zur Klassenkämpferin: Die Banker hätten „den Staat erpresst“, und es sei „nicht fair, dass die kleinen Leute nun für die Krise bezahlen sollen, während die Schuldigen längst über alle Berge sind“, ist da zu hören. Kein Wort dafür über ihren Gegner, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dessen SPD laut letzten Umfragen bei gerade einmal 24 Prozent steht, während Merkel, wenn die Meinungsforscher nicht erneut irren, am Sonntag mit 37 Prozent rechnen darf. Aber Auswege, Vorhaben, ja gar eine Vision – alles Fehlanzeige. Merkel bleibt im Vagen verhaftet, und vielleicht ist es ja genau das, wonach Deutschland derzeit verlangt.
(Erschienen in NEWS 39/09)