AN DER TOLERANZGRENZE. In Osteuropa wachsen wieder Mauern. Dort, wo Zusammenleben scheitert, Vorurteile wahr werden und Lösungen Mangelware sind.
Es gibt Tage, an denen es Miroslav Blíchar vor der Fahrt zu seiner Mutter graut. Besonders zur Monatsmitte hin befällt den kräftigen 57-Jährigen meist eine Mischung aus banger Befürchtung und Zorn, sobald er in den Wagen steigt und die paar Kilometer zur alten Frau zurücklegt. „Sie haben dann schon die Sozialhilfe erhalten, bereits Alkohol, vielleicht auch Drogen zum Schnüffeln gekauft und wieder weiß Gott was angestellt“, erzählt Blíchar, als er das Auto vor dem kleinen, leicht rosa getünchten Haus der Mutter abstellt: „Aber heute ist zum Glück erst der 6., heute ist es noch ruhig hier.“
Hier, das ist Ostrovany, ein 1.700 Einwohner-Dorf im Osten der Slowakei, knapp 400 Kilometer hinter Wien. Und „sie“, sie sind „die Zigeuner“, wie Blíchar sagt, „die Zigeuner, unsere Nachbarn.“ Der gelernte Maurer zieht die weißen Gardinen zur Seite und deutet aus dem Fenster in den Garten: „Bitte, das ist unser Ausblick.“ Einige dutzend Meter entfernt, in einer leichten Senke gelegen, stehen etliche Holzverschläge. An die zwanzig Hütten, zusammengezimmert aus ein paar Brettern und Lehm, aus denen dichter Rauch weht. Es ist wie ein Blick zurück ins Mittelalter, unwirklich und doch so real.
„Die weiße Minderheit“ Der Blick fällt auch auf Betonblöcke: Weiß, massiv und übereinandergelagert, ergeben sie eine mehr als zwei Meter hohe und 200 Meter lange Barriere, eine Absperrung, eine Mauer – die Mauer von Ostrovany. Während sich dieser Tage tausend Kilometer entfernt Berlin darauf vorbereitete, dem Fall der Mauer vor 20 Jahren zu gedenken, fuhren in Ostrovany Bagger auf, um eine neue zu errichten. Was einst Ost und West trennte, soll hier, die zur Minderheit gewordenen „Weißen“ vor den, die Mehrheit stellenden „Schwarzen“, schützen.
Schwarz und weiß – in einer Gegend, wo der Ausdruck „Humanist aus dem Westen“ meist ein schlimmeres Schimpfwort darstellt als „Zigeuner“, sind dies auf beiden Seiten gebräuchliche Begriffe und noch das geringste Problem. Die wahren Probleme lassen sich zuerst in Zahlen ausdrücken. Im Osten Europas leben geschätzte acht Millionen Roma – allein in der Slowakei sind es mehr als 400.000. Die meisten von ihnen sind arm, arbeitslos und am Rand der Gesellschaft.
Doch die Zahlen geben kein Gefühl für die wahren Probleme. Aus ihnen lässt sich kein Zusammenhang ziehen zwischen Bettlerbanden auf Österreichs Einkaufsstraßen und dem, was Menschen wie Miroslav Blíchar in Ostrovany und anderswo berichten. „Rassisten schimpfen sie uns jetzt“, klagt er, „die feinen Herrn Minister aus Bratislava, die herkommen, vom Brücken bauen statt Mauern errichten sprechen und dann rasch wieder einsteigen in ihre abgedunkelten Dienstlimousinen, zurückkehren in ihre Villen hoch über der Hauptstadt.“
Blíchar ist sauer, steht trotzig hinter dem Haus der Mutter im Garten und deutet über die Mauer nach drüben: „Jahr für Jahr haben sie uns die Ernte gestohlen – Äpfel, Kartoffel, Tomaten, alles. Auch den Zaun haben sie abmontiert und beim Schrotthändler zu Geld gemacht – in drei Etappen, damit ich sie nicht anzeigen kann, denn alles unter 50 Euro gilt als Bagatelldelikt und wird von der Polizei nicht verfolgt.“ Was banal klingt, wird in Gegenden, wo eine Verkäuferin 300 Euro im Monat verdient und daher froh über die Ernte aus dem eigenen Garten ist, rasch zum Massenärgernis.
Aufmarsch der Glatzen. Stille Wut über die wachsende Kleinkriminalität paart sich mit dem dumpfen Gefühl, von der großen Politik dafür bloß belächelt zu werden: Egal, ob in Tschechien, Ungarn oder eben der Slowakei – halb vermummte Männer in faschistisch anmutenden Uniformen wissen dergleichen gut für sich zu nützen. Als im Frühjahr ein jugendlicher Rom im Nachbardorf von Ostrovany eine Verkäuferin erstach und zwei andere einen Pensionisten halb tottraten, rief die rechtsextreme „Slowakische Gemeinschaft“ zum „Marsch gegen den Zigeunerterror“.
400 Glatzen kamen, freuten sich über reichlich Zuspruch der Bewohner und konnten nur durch ein massives Polizeiaufgebot daran gehindert werden, die Roma- Siedlung zu stürmen. Diese Siedlungen, sie sind eigentümliche Orte, versteckt, verstohlen, an den Rand gedrängt. Orte mit eigenen Regeln, Riten und Rythmen, fast unsichtbar, undurchschaubar und doch existieren in der Slowakei mehr als 800 davon.
Der Weg dorthin führt über matschige Pfade, schmutzige Wege, Trassen, gesäumt mit Müll. Abstieg in das Herz von Ostrovany, dorthin, wo zwei Drittel seiner Bewohner hausen. Der Regen wird nun stärker, das Gebell der Hunde lauter, der Rauch aus den Hütten dichter. Kleine Kinder, oft bloß Lumpen am Leib tragend, laufen umher. Sie lachen. Sie lachen inmitten der Apokalypse, spielen inmitten von Müllbergen, an einem Ort, der auf uns wie ein Vorhof zur Hölle wirkt. Aus den Bretterverschlägen dröhnt Musik, durch die Fenster schimmern Fernsehschirme. Der Strom, der sie betreibt, wird abgezweigt. Fließend Wasser gibt es erst weiter hinten, wo die Häuser gemauert sind und jene Alten leben, die im Kommunismus noch arbeiteten.
Einst zogen sie als Musikanten, Hufschmiede und Erntehelfer durchs Land, galten als „Kinder des Windes“, waren mal hier, mal dort. „Doch das ist Jahrzehnte her“, sagt Roman Conka, der eine monatliche Roma-Zeitung leitet, „mittlerweile haben ganze Generationen die Hoffnung auf Arbeit aufgegeben und sich an den Bezug der Sozialhilfe gewöhnt.“ Es sind unangenehme Wahrheiten, die er ausspricht und die jeder sehen kann, der aufhört, die Lage in den Roma- Slums zu idealisieren.
Wer die Augen öffnet, sieht Kinder, die bloß Lumpen tragen, während die Eltern in der Hütte teils vor Plasmafernsehern lungern. Er sieht Kinder, die kaum zur Schule geschickt werden, damit der „Vajda“, der Patriarch einer Sippe, später nicht die Macht über sie verliert. Und er sieht auch Paläste inmitten des Elends, gelb verputzt, mit einem BMW in der Auffahrt – das Domizil des „Wucherers“, jenes Menschen also, der Geld zu horrenden Konditionen verleiht und die Schuldner dann zum Betteln und Stehlen in die Hauptstädte Westeuropas karren lässt. Von „Rassismus“, „Diskriminierung“ und einer „neuen Berliner Mauer“ sprechen die Menschen hier und geben dem Bürgermeister die Schuld daran.
Der sitzt vor ausgebreiteten Plänen im Gemeindeamt und berichtet von seinem Scheitern. Von der „Aktivierungsarbeit“, mit der sich die Roma die Sozialhilfe aufbessern können, wenn sie dafür etwa ihre Siedlung säubern. Der Schmutz blieb, das Geld floss trotzdem – „denn ich habe auch ein Herz.“ Als Cyril Revák nach der Wende gewählt wurde, lebten 500 Roma in Ostrovany. „Heute sind es 1.200 und fast alle sind arbeitslos – wo soll das nur enden?“
Die Mauer ist sein Sieg und seine Niederlage zugleich. Er ließ sie errichten, „um die Diebstähle zu stoppen“ und wohl auch um jene Mitbürger zu besänftigen, „die mir jeden Tag vorrechnen, dass ein Rom mit sechs Kindern allein durch Sozialhilfe doppelt so viel ,verdient‘ wie ein gewöhnlicher Arbeiter.“ „So manches Vorurteil stimmt“, gesteht Journalist Conka ein, „aber dennoch sind Rassismus und Diskriminierung weit verbreitet. Die Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen sind derart angespannt, dass mittlerweile ein Tropfen reicht, um das Fass zum Überlaufen zu bringen – und dann hilft auch keine Mauer mehr…“
(Erschienen in NEWS 46/09)