Auf der Flucht vor dem Krieg schafft es eine hochschwangere Syrerin allein nach Österreich. In Linz bringt sie Baby Alma zur Welt. Doch der Ehemann und die ältere Tochter sind auf Kreta gestrandet. Ihre Odyssee hat sie Tausende Kilometer voneinander getrennt. NEWS sorgt für ein Happy End.

Der lang ersehnte Moment: Ammar hat seine zehn Wochen alte Tochter Alma noch nie im Arm halten können. (Foto: Heinz S. Tesarek)
Hektik. Die Reisenden hetzen über die langen Gänge. Die Rollkoffer klackern über den Boden. Gepiepse von allen Seiten. Zahra drückt ihr Baby fest an sich, ist nervös. Alma weint. Sie will sie beruhigen, wiegt das Kind hin und her. Dann endlich ist es soweit. Die Schiebetür am Flughafen in Schwechat öffnet sich. Sonnengebräunte Reisende strömen raus, Anzugträger mit leichtem Gepäck quetschen sich an ihnen vorbei. Zahra schiebt sich durch die Menschenmenge nach vorn, um ihre Tochter Alisar und den Ehemann Ammar sofort sehen zu können.
Neun Monate hat die 35-Jährige auf diesen Moment gewartet. Als sie ihre Familie zum letzten Mal in den Armen hielt, war Baby Alma noch nicht einmal geboren. Niemand ahnte damals, ob sie sich je wieder sehen werden, ob das Kind, das Zahra unter ihrem Herzen trug, leben wird. Aber die Flucht war ihre einzige Chance.
Gemeinsam flohen sie vor dem Krieg.
Die Geschichte dieser Familie ist ein Beispiel für das Schicksal der fast sieben Millionen Syrer, die ihre Heimat verloren haben. Was dort als Aufstand gegen den Diktator Baschar al-Assad begonnen hatte, ist zur größten Tragödie der Gegenwart geworden. Mitten darin: Zahra, ihr Mann Ammar und die zwölf Jahre alte Tochter Alisar. Gemeinsam flohen sie vor dem Grauen. Mussten sich trennen. Nachdem der Vater und die Tochter in Griechenland gestrandet waren, lag es an Zahra, es allein und hochschwanger bis nach Österreich zu schaffen. Sie heuerte Schlepper an, fuhr auf einem überfüllten Kahn über das Meer, lag mehrere Tage bewusstlos und dehydriert in einem Van. Und als sie am 8. Juni im Flüchtlingsheim Traiskirchen ihre Fingerabdrücke abgeben musste, gelangte sie nur bis zum Mittelfinger. Dann wurde sie erneut ohnmächtig. Drei Monate später brachte sie Baby Alma gesund zur Welt.
Ein Bündel Hoffnung.
Jetzt, an einem grauen Novembertag, könnte es endlich so weit sein. Zwei Monate sind seit dem Erscheinen der ersten NEWS-Geschichte über die zerrissene Familie vergangen. Die Reporter hatten damals deren Schicksal auf Kreta und in Linz recherchiert. Die Geschichte bewegte unsere Leser wie keine andere in diesem Jahr. Sie wollten helfen und begannen auf ein Happy End zu hoffen.
Und nun öffnet sich am Wiener Flughafen erneut die Schiebetür. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern, denkt Zahra. Sie ahnt noch nicht, dass ihre Geduld ein letztes Mal auf die Probe gestellt wird. Eine ganze Stunde würde noch verstreichen, bevor ihr größter Wunsch wahr werden sollte.
Rückblende.
Kreta, Anfang Oktober. Die ersten Tavernen schließen, die noch verbliebenen Urlauber wagen sich ein letztes Mal ins Meer. Im dritten Stock einer kleinen Pension hockt Ammar. Betrachtet Bilder des Babys. Alma, seine Tochter, „sie ist so schön wie ihre Mutter“, sagt er und seufzt. Noch nie hat er sie in den Arm nehmen, sie tätscheln oder küssen können.
Stille. Nur unterbrochen vom Geschrei spielender Kinder, das von unten hochdringt. Sie plantschen im Meer, laufen durch die sich leerenden Reihen an Sonnenliegen am Strand. „Geh doch auch runter“, sagt Ammar zu seiner Tochter. Aber Alisar mag nicht. Ruhig sitzt die 12-Jährige auf dem Bett und malt. Es sind Bilder ihrer Zukunft. Sie als junge Frau, sportlich gekleidet, das Haar hochgesteckt, mit Handtasche. „I love Austria“, schreibt sie darunter und malt ein Herz in Rot-Weiß-Rot.
Abends wird Ammar wieder ins Zentrum von Chania aufbrechen. Vorbei an den gut gefüllten Restaurants, in denen Touristen essen. Den Blick zu Boden gerichtet, huscht er an ihnen vorbei. Schließlich reiht er sich ein in eine Schlange von Menschen, die sich vor einem Fenster bildet. Kübel werden hindurchgereicht. Meist sind Reis oder Bohnen darin, an besseren Tagen auch einmal Nudeln oder etwas Fleisch.
Am nächsten Tag weint Ammar. Alisar ist oben im Zimmer und er sitzt ratlos außer ihrer Sichtweite unten am Strand. „War das alles richtig?“, fragt er, „war es das wert? All die Gefahr? Was für ein Vater bin ich? Was für ein Ehemann?“
Keine Hilfe in Ägypten.
Wie in einem Zeitraffer berichtet er von einem Leben, das nicht mehr seines ist. Er, erst als Geschäftsmann in Damaskus. Dann, als erfolgreicher IT-Spezialist in Dubai. Mit gutem Gehalt, Geld, das ihn zwei Wohnungen und zwei Autos finanzieren lässt. Nichts davon ist übrig. Die eine Wohnung ist ausgebombt, die andere verlassen. Die Autos verkauft, der Gewinn für die Flucht draufgegangen. Zuerst nach Ägypten. Ein Land, das selbst eine gescheiterte Revolution hinter sich hat und in dem die Flüchtlinge aus Syrien zu ungebetenen Gästen wurden. Zahra, seiner Frau, die wie in Damaskus erneut in einem Kosmetiksalon zu arbeiten beginnt, stellen Männer nach. „Betatschten sie wie Tiere“, sagt Ammar angewidert.
Für ihn ist dies der schwerste Moment. Zu realisieren, dass er von seinen arabischen Landsleuten keine Hilfe erwarten kann. Syrien verließen sie, weil sie um ihr Leben fürchteten, nachdem ihr Viertel zur Kampfzone geworden war: Die Truppen von Diktator Assad gegen all jene, die sich gegen ihn erhoben. Freiwillige und Fanatiker, Radikale und Religiöse. Und dazwischen eine Familie, die nur leben will. Deren Liebe stärker ist als der Keil, der die Konfessionen zu trennen beginnt. Ammar ist Sunnit, Zahra Alawitin. Seine Leute wollen Assad stürzen, ihre befinden sich in dessen Geiselhaft. „Und dann sitzt du in Kairo, glaubst dich in Sicherheit, nimmst an, all das Schlechte hinter dir gelassen zu haben und begreifst, dass auch hier deine Familie keine Zukunft haben wird.“
Er zeigt nun das Video eines verrosteten Kahns. Er ist voll mit Menschen, die aufgebracht schreien. „Das war unser Schiff, Alisars und meines.“ Nach Sizilien sollte es die beiden bringen. Von dort wollten sie sich bis nach Österreich durchschlagen, wo sie Asyl beantragen und die schwangere Mutter mit dem Flugzeug nachholen würden.
Der Plan scheiterte bereits auf halber Strecke. Das Mittelmeer, längst die gefährlichste Seegrenze der Welt, hätte auch sie fast in den Tod gerrissen. Je schneller die morschen Regime in der arabischen Welt bersten und auf sie Chaos und Gewalt folgen, desto mehr Menschen fliehen über das Wasser in Richtung Europa. Wie viele dabei ertrunken sind, weiß keiner genau. Schätzungen gehen von 3.000 Toten allein seit Jahresbeginn aus.
Nun läuft auf Ammars Handy wieder dieses Video, das ihr Schiff zeigt. Es ist eine Aufnahme aus den TV-Nachrichten Kretas, die von einer Rettung in letzter Minute berichten. Der Kahn war in einen Sturm geraten, kurz vor dem Kentern. „Worte können nicht beschreiben, was wir erlebten“, sagt Ammar, „ich hoffe, dass die Bilder der Menschen, die den Tod ahnen und um ihr Leben kämpfen, irgendwann aus meinem und Alisars Kopf verschwinden werden.“
Die Griechen drohen mit der Ausweisung.
Nun also Kreta. Ammar und Alisar, gestrandet wie Treibgut, mit dem keiner etwas anzufangen weiß. Damals, im März, schien alles noch wie ein kurzes Kapitel in einer langen Erzählung. Aber nun, nach Monaten, die vergangen waren, in denen nichts geschah? Gefangen in Griechenland, einem Staat, der selbst an der Kippe steht. Das Asylwesen ist kollabiert, das Recht auf Schutz durch die Genfer Konvention einem zynischen Lotteriespiel ums Überleben gewichen. Statt ein Asylverfahren einzuleiten, drohen griechische Behörden Ammar und Alisar, so wie Tausenden anderen Angekommenen, mit Fremdenrecht und Ausweisung.
Alisar weint, als die NEWS-Reporter Kreta verlassen. Sie hatte gehofft, mit in jenes ferne Land reisen zu können, in dem ihre Mutter Zuflucht fand und in dem ihre kleine Schwester geboren wurde. Doch die Lage ist verworren, die rechtliche Situation schwierig. Experten der Volkshilfe Oberösterreich, die sich in Linz um Zahra und Baby Alma kümmern, berichten von ähnlichen Fällen, in denen Jahre vergehen, bis eine Familienzusammenführung zwischen EU-Staaten gelingt.
Als die erste NEWS-Reportage erscheint, ist das Echo enorm. Leser bieten Hilfe an, wollen Flugtickets bezahlen, überweisen Geld. Auch Innenministerin Mikl-Leitner reagiert: „Unsere Beamten haben von sich aus Kontakt nach Athen aufgenommen und erste Schritte gesetzt, um eine Familienzusammenführung zu ermöglichen. Das beweist ihre Sensibilität und Betroffenheit.“ Fortan lässt NEWS nicht locker. Gemeinsam mit den Experten des Innenministeriums und der Volkshilfe wird versucht, das Dickicht griechischer Bürokratie zu durchdringen.
Prinzip Zufall, Athener Alltag.
Athen, am vergangenen Donnerstag. Sieben Wochen sind vergangen. Gleich hinter der U-Bahnstation Katehaki drängen sich schon vor Sonnenaufgang Hunderte von Menschen. Mütter mit Kindern, Ausgemergelte und Verzagte genauso wie Kräftige und Wütende. „Ela, ela“, schreit ein Mann mit Mundschutz und Sonnenbrille sie an. Entlang eines Zauns sollen sie eine Reihe bilden, welche 20 Minuten später von einem anderen Polizisten mit Schlagstock wieder aufgelöst wird. „Ela, ela“, „kommt, kommt“, heißt es immer wieder. Alles geschieht, ohne dass eine ihm zugrundeliegende Ordnung erkennbar wäre. Prinzip Zufall, Athener Alltag.
Ammar war in den vergangenen Wochen häufiger hier in Katehaki, vor dem Gebäude der Asylbehörde. Oft schon nachts, um einen besseren Platz zu ergattern, bevor das Amt um 10 Uhr seinen Betrieb aufnimmt. Griechenland versucht sich hier an der Verwaltung eines Chaos: zwei Millionen Immigranten sollen illegal im Elfmillionenstaat sein, sagen Schätzungen. Allein seit Jahresbeginn wurden offiziell über 20.000 neue Flüchtlinge gezählt. Es sind Menschen aus allen Winkeln einer zerbrechenden Welt, die hier anstehen. Vor dem Krieg geflohene Syrer reihen sich neben Menschen aus Bangladesch oder dem Maghreb ein. „Als es uns selbst noch besser ging, haben wir versucht, euch allen zu helfen, aber jetzt ist es vorbei“, sagte der Taxifahrer zu Ammar auf dem Weg hierher.
Was folgt, erinnert an Kafkas „Prozess“. Tore öffnen und schließen sich. Ein Dutzend Menschen wird eingelassen, der Rest auf morgen, übermorgen oder in zwei Jahren vertröstet. „Du hörst auf, ein Mensch zu sein. Anerkannt, respektiert“, sagt Ammar, „keinen interessiert mehr, wer du einmal warst, welchen Beruf du ausgeübt hast. Du bist nur noch ein Bittsteller. Ein Habenichts. Ein Ungewollter. Im besten Fall eine Zahl in einem Asylverfahren.“
Ammar wird nach Stunden mitgeteilt, dass seine Überstellung nach Wien bewilligt wurde. Nachts habe er sich bereitzuhalten, er und Alisar würden abgeholt.
Bis dahin ist es ein Zittern und Bangen, denn ihre Pässe liegen noch bei den Griechen. In der Unterkunft der beiden schildern andere Syrer von ihrer Flucht. Einer war schon zu Fuß bis nach Serbien gelangt, bevor ihn die Polizei aufgriff und zurückschickte. Andere investierten Tausende Euro in gefälschte Pässe, die dennoch am Flughafen enttarnt wurden. Egal, was sie auch taten, sie scheiterten am Versuch, aus der Sackgasse Griechenland zu geraten.
Am nächsten Morgen hebt pünktlich um 7:05 Uhr Flug LH1285 vom Athener Airport in Richtung Frankfurt ab. An Bord: ein Vater mit seiner Tochter. Gebannt starren sie aus dem Fenster, sehen die Berge über die Tausende mit einem ähnlichen Schicksal versuchen zu Fuß in den Norden zu gelangen. Die beiden wirken in diesem Moment nicht glücklich oder gar euphorisch. Nur erleichtert, nur froh, dass es vorbei ist. Irgendwann, als die Maschine die Alpen überquert, schlafen sie sanft ein. Alisar an der Schulter ihres Vaters.
Bevor der Anschlussflug in Wien landet, will sich Ammar seinen Ehering anstecken. Er verbarg ihn all die Monate, aus Angst, er könnte ihm gestohlen werden. Und nun rutscht er ihm vom Finger, hält nicht mehr. Ammar wiegt nur noch 64 Kilo, zwölf weniger als damals, im März, bevor er seine Frau ein letztes Mal umarmte.
Vater und Tochter werden abgeführt.
Nach der Landung kommt das Begrüßungskommitee direkt zum Flieger: es sind Polizisten. Ammar und Alisar werden abgeführt. Dürfen nicht einreisen. Nicht zur Mutter, die draußen in der Halle wartet. Erst erfolgt eine Einvernahme auf dem Posten der Grenzpolizei am Airport. Ammar und Alisar werden befragt. „Wieso sind Sie geflüchtet? Was haben Sie erlebt? Warum wollen Sie nach Österreich?“ Ammar redet so schnell er kann. Schildert sein Schicksal. Dann dürfen sie raus.
Zahra weiß mittlerweile, was los ist. Sie hat sich erinnert. Kennt das Prozedere. Das Erstaufnahmegespräch, natürlich. Sie wartet, erst im stickigen Vorraum des Postens. Dann geht sie mit Alma vor die Tür. Luft schnappen. Sie ist so nervös, sie glüht schon. Baby Alma quietscht auf ihrem Arm. Schließlich ist es soweit.
„Mama, Mama, Mama“, ruft Alisar. Sie weint und lacht und die Tränen vermischen sich mit den Freudentränen ihrer Mutter, als sie sich in den Armen liegen. Das Baby schreit, wird eingequetscht von so viel stürmischer Liebe. Ammar kann es kaum glauben. Er läuft auf seine Familie zu. Endlich. Er küsst seine Frau auf die Stirn, dann sieht er sein Baby. Zum ersten Mal nimmt er das Kind in die Arme. Es fühlt sich an wie ein Wunder – sein Wunderbaby.
Die Familie lebt jetzt vereint in einer Unterkunft der Volkshilfe in Linz. Die Betreuer helfen, eine Wohnung zu finden. Alisar sagt auf Deutsch: „Ich wunsche ich lerne schnell.“ Ammar möchte bald arbeiten, damit er seine Familie finanzieren kann. Wie damals in Damaskus. Zahra will ihnen Österreich zeigen. Sie kennt sich schließlich schon am besten aus. Und Baby Alma, das wird diese Geschichte in ein paar Jahren selbst lesen und so erfahren, dass ihre Familie Krieg und Flucht überlebt hat, durch den Glauben an die Liebe.
Erschienen in NEWS 48/2014 (gemeinsam mit Saskia Aberle verfasst)