ANGST VOR ESKALATION. Wladimir Putin hat Völkerrecht gebrochen, warum Außenminister Sebastian Kurz trotzdem mit ihm verhandeln will. Das große Interview.
Bedächtig blickt Sebastian Kurz auf die Bilder. Sie sind in Schwarz-Weiß und stammen aus längst vergangenen Zeiten. Sie zeigen Soldaten, die eine Mauer errichten. Menschen, die später darüber hinweg in den abgeriegelten Osten einer Stadt schauen. Für Sebastian Kurz sind diese Fotos fremd. Er war drei Jahre alt, als 1989 die Berliner Mauer fiel. Nun, 25 Jahre später, ist er als österreichischer Außenminister in dieser Stadt, die wie keine andere für den Kalten Krieg und die Teilung Europas steht.
NEWS begleitete Kurz beim Berlin-Besuch. Ein Thema überschattet seine dortigen Treffen mit Amtskollegen: Russland, die Ukraine, eine völlig neue Weltlage, die sich keiner noch vor einem Jahr hätte vorstellen können. Damals trat Kurz sein Amt an. „Wer Peinlichkeiten und Fremdschämen erwartet hatte, lag falsch“, lobte die deutsche Presseagentur dpa, die ihn diese Woche zu einem der sieben Gewinner der Weltpolitik 2014 kürte. Nun spricht Kurz über eine gefährlicher gewordene Welt.
NEWS: Michail Gorbatschow warnte genau hier, in Berlin, zum 25. Jahrestag des Mauerfalls davor, dass die Welt in einen neuen Kalten Krieg taumelt. Stimmen Sie ihm zu?
Sebastian Kurz: Ja, wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Kalten Krieg. Hintergrund ist die Konfrontation zwischen der EU und der von Russland geführten Eurasischen Zollunion. Dazwischen stehen Länder wie die Ukraine, Moldawien oder Georgien, die unter diesem Spannungsverhältnis leiden. Wir sollten alles unternehmen, dieses Block-Denken zurückzudrängen, damit der Kalte Krieg dorthin verschwindet, wo er hingehört: nämlich in die Geschichtsbücher.
NEWS: Die Krise in der Ukraine beschäftigt uns schon seit Jahresbeginn. Wieso sahen bisher nur „elder statesmen” wie Kissinger, Deutschlands Ex-Kanzler Schmidt und Kohl, die Gefahr dieses neuen Kalten Krieges?
Kurz: Diese Einschätzung teile ich nicht. Ich erinnere mich an mein erstes Interview als Außenminister vor knapp einem Jahr. Damals sagte ich, dass wir weg müssen von dieser „Entweder-Oder”-Politik zur Ukraine und wir das Land nicht in eine Zerreißprobe zwischen der EU und Russland drängen dürfen.
NEWS: Aber genau diese Zerreißprobe fand doch schließlich statt und ist eine der Ursachen jetziger Spannungen.
Kurz: Ich erntete damals mit meiner Position viel Kritik im Rat der EU-Außenminister. Seither ist jedoch einiges in Bewegung gekommen: In der letzten Sitzung haben zahlreiche Außenminister meine Haltung geteilt und sich für einen direkten Dialog mit Russland ausgesprochen. Daran führt kein Weg vorbei. Denn es geht nicht nur um den militärischen Konflikt im Osten der Ukraine, sondern auch um Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen.
NEWS: Warum blieben Sie mit Ihren Warnungen vor der Zerreißprobe für die Ukraine allein? Es ist doch kaum vorstellbar, dass dies zuvor niemand innerhalb der EU kommen sah?
Kurz: Man muss klar sagen, dass das russische Vorgehen nicht akzeptabel ist. Der EU kann man vorwerfen, nicht vorhergesehen zu haben, dass Russland bereit sein würde, Grenzen zu überschreiten, Völkerrecht zu brechen und so gegen alle Regeln des Zusammenlebens zu verstoßen. Es ist jedoch legitim, dass wir als EU Länder dabei unterstützen, sich in den Bereichen Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung zu entwickeln. Dass es im Fall der Ukraine russische Interessen gibt, die es notwendig machen, Gespräche zu führen, ist aber ebenso Realität. Das müssen wir mit Pragmatismus zur Kenntnis nehmen. Am Grundsatz, dass souveräne Staaten selbst über ihr Schicksal entscheiden wollen, können und müssen ändert das aber nichts.
NEWS: Das heißt, Russland trägt die alleinige Schuld am neuen Kalten Krieg?
Kurz: Die Schuldfrage ist sehr einfach zu klären: Russland hat mit der Annexion der Krim Völkerrecht gebrochen, zugelassen, dass seine Soldaten im Osten der Ukraine kriegerisch tätig sind.
NEWS: Weshalb fordern Sie nun trotzdem, mit Moskau den Dialog zu suchen?
Kurz: Um einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation zu finden. Russland ist Teil des Problems, also muss es auch Teil der Lösung werden.
NEWS: Wie groß ist die Gefahr für Europa, die von Wladimir Putin ausgeht?
Kurz: Wir sehen in der Ukraine, wie schnell wir in eine dramatische Situation geraten können. Es hat niemand vorhergesehen, dass Russland die Krim annektieren und die Separatisten im Osten unterstützen würde, ja selbst Soldaten dorthin schickt. Insofern tue ich mir schwer, solche Einschätzungen zu treffen.
NEWS: Wie also umgehen mit Putin? Balten und Polen plädieren für Härte, Italien oder Frankreich für Milde. Wo steht Österreich?
Kurz: Wir sind in der Gruppe derer, die von Anfang an gesagt haben, dass es eine Lösung nur gemeinsam mit Russland geben kann und jede Chance auf Verhandlung zu nützen ist. Auch bei den Sanktionen zählten wir zu jenen, die eher auf die Bremse stiegen.
NEWS: Was haben diese Sanktionen überhaupt bislang gebracht?
Kurz: Das ist eine berechtigte Frage. Aber es gibt niemanden, der sich anmaßen könnte, zu sagen, was ohne Sanktionen geschehen wäre. Vielleicht wäre Putin dann noch viel weiter gegangen. Es war richtig von der EU, eine militärische Antwort von vornherein auszuschließen, denn das hätte eine Katastrophe bedeutet. Im Gegenzug wäre es aber falsch, wegzusehen, wenn in einem Land, das von Wien so weit weg ist wie Vorarlberg, plötzlich russische Soldaten im Einsatz sind und täglich Menschen sterben. Daher waren die Sanktionen die adäquate Antwort.
NEWS: Das werden heimische Unternehmer, die nun Ausfälle und Verluste haben, anders sehen.
Kurz: Die russische Wirtschaft ist derzeit in einer massiven Krise und damit auch ein Problem für unsere Wirtschaft. Es gibt weniger Investitionen aus Russland, Rubel und Ölpreis sind enorm niedrig und die Wirtschaftslage in Russland, aber auch der Ukraine, ist dadurch dramatisch. Nicht die Sanktionen sind dafür der Auslöser, sondern der Konflikt selbst.
NEWS: Wie lange werden wir uns diese Sanktionen noch leisten können?
Kurz: Wir hatten letztes Jahr Exporte nach Russland in Höhe von 3,48 Milliarden Euro, das sind rund drei Prozent unserer Gesamtexporte. Unser großes Interesse ist eine friedliche Lösung des Konflikts und jede positive Entwicklung wird dazu führen, aufeinander zuzugehen und Sanktionen abzubauen. Doch der Waffenstillstand, der in Minsk beschlossen wurde, wird Tag für Tag gebrochen, die Vereinbarung hält nicht.
NEWS: Will Putin überhaupt eine Lösung? Ist sein Interesse, diesen Konflikt einzufrieren und die Ukraine so dauerhaft zu destabilisieren nicht weitaus größer?
Kurz: Das mag sein. Aber in der Ukraine sterben Tag für Tag Menschen. Wir müssen Wege finden, das Sterben zu beenden. Leider ist die Erwartung, dass dieser Konflikt von heute auf morgen verschwindet, trügerisch, aber ein Zusammenleben muss wieder möglich sein.
NEWS: Ist Putin ein Diktator?
Kurz: Um diese Frage geht es nicht. Sondern darum, dass die EU und Russland einen Weg des Zusammenlebens finden, bei dem Länder wie die Ukraine, Moldawien oder Georgien nicht zwischen diesen beiden Blöcken aufgerieben werden.
NEWS: Geht es nicht doch auch um diese Definition? Wiktor Janukowitsch etwa wurde vor einem Jahr in Wien noch als Präsident der Ukraine empfangen. Wenige Wochen später herrschte Einigkeit darüber, dass er ein Diktator ist.
Kurz: Na ja, dazwischen ist einiges passiert. Es gab unzählige Tote, da mit Polizei und Waffengewalt gegen Demonstranten vorgegangen wurde. Erst verweigerte Janukowitsch von heute auf morgen die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der EU. Daraufhin entstand die Maidan-Bewegung, die so stark war, dass er aufgrund der Gewaltexzesse sein Amt verlassen musste.
NEWS: Erst dadurch wird ein Staatschef zum Diktator?
Kurz: Nein, aber ich glaube, dass uns diese gegenseitigen Beleidigungen nicht weiterbringen. Wladimir Putin hat Völkerrecht gebrochen, sein Verhalten ist zu verurteilen, aber dennoch ist er derjenige, mit dem verhandelt werden muss, daran führt kein Weg vorbei.
NEWS: Wo ist die rote Linie bei solchen Verhandlungen?
Kurz: Putin scheint kein Interesse daran zu haben, dass sich die Ukraine zu einem erfolgreichen, demokratischen Staat entwickelt, da er Sorge hat, dass dies auch Auswirkungen auf die russische Innenpolitik haben könnte. Dieser Punkt ist jedoch nicht verhandelbar. Wir werden weiterhin Länder bei ihrem Streben nach Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstützen.
NEWS: Was kann man Putin bei Verhandlungen also anbieten? Was ist etwa mit den NATO-Ambitionen der Ukraine?
Kurz: Ein Beitrittsgesuch ist zwar eine souveräne Entscheidung der Ukraine, aber die russische Ablehnung ist durchaus nachvollziehbar. Wenn man weiß, dass die NATO-Perspektive für die Ukraine letztlich nicht vorhanden ist, braucht man nicht ständig damit spekulieren und dadurch Öl ins Feuer gießen.
NEWS: Nur das allein wird die Spannungen zwischen der EU und Russland nicht beheben. Wie lässt sich dieser Konflikt lösen?
Kurz: Beim Widerstreit zwischen EU und der von Russland geführten Eurasischen Zollunion (mit Weißrussland, Kasachstan und Armenien – Anm.) geht es hauptsächlich um Wirtschaftsinteressen. Ich glaube, dass wir langfristig an Plänen einer Freihandelszone zwischen beiden Blöcken arbeiten sollten, um dieses Spannungsverhältnis aufzulösen.
NEWS: Was bereitet Ihnen größere Sorgen: der neue Kalte Krieg, über den wir gerade sprachen, oder der Terror des so genannten Islamischen Staates (IS)?
Kurz: Der Ukraine-Konflikt betrifft uns, auch aufgrund der Nähe, politisch und wirtschaftlich stark, gefährdet jedoch nicht unmittelbar unsere Sicherheit. Der IS-Terror hingegen schon. Über 3.000 Europäer haben sich den Islamisten angeschlossen, was eine gänzlich andere Bedrohung ergibt. Im Unterschied zu Russland gibt es da auch nichts zu verhandeln und zu besprechen. Hier verbinden Terroristen mittelalterliche Barbarei mit modernen Waffen und moderner Kommunikation.
NEWS: Wie ist der Vormarsch des IS zu stoppen?
Kurz: Nur durch entschlossenes militärisches Vorgehen im Irak und in Syrien, parallel zu einem entschlossenen polizeilichen Vorgehen in Europa, begleitet von Präventionsmaßnahmen, die verhindern, dass sich nicht noch mehr junge Menschen radikalisieren und verführen lassen.
NEWS: Letzteres scheint schwierig. Die Biographien derer, die sich aus Österreich dem IS anschlossen, unterscheiden sich gravierend: vom Konvertierten bis zu 14-Jährigen. Wie soll da Prävention greifen?
Kurz: Richtig. Die größte Gruppe stellen Asylwerber, die aus Tschetschenien zu uns gekommen sind. Diese sind kampferfahren und gehen quasi als ausgebildete Soldaten zum IS. Die zweite Gruppe sind religiöse Fundamentalisten, die sich vom IS anwerben lassen. Hinzu kommen junge Menschen ohne Perspektive, aber auch junge Mädchen, die sich im Internet verführen lassen – mit Methoden, wie sie sonst Pädophile anwenden. All das beweist, dass es beides braucht: hartes polizeiliches Vorgehen gegen jene, die sich etwas zu schulden kommen haben lassen oder andere verführen. Aber im gleichen Zuge Präventionsmaßnahmen im Bildungs- und Sozialbereich.
NEWS: Welche Rolle spielt die islamische Glaubensgemeinschaft?
Kurz: Eine entscheidende, denn sie überwacht die Ausbildung der Religionslehrer und Imame. An ihnen liegt es, den Jungen zu erklären, dass ein gläubiger Muslim nie solche Verbrechen begehen darf.
Erschienen in NEWS 49/2014