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Bei den illegalen Kohle-Jägern

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

IM ARMENSCHACHT. Unter Lebensgefahr graben in Polen Tausende Arme nach Kohle. Wir fanden sie 400 Kilometer hinter Wien und stiegen mit in den Schacht.

Sie müssen uns wohl gehört haben. Unser Keuchen in der Kälte. Das Knirschen des Schnees unter den Schuhen. Die paar Worte, die in dieser Nacht mitten im Wald gefallen sind. Als wir die Lichtung erreichen, liegt sie verlassen im Mondschein. Die Männer, wie viele es auch immer waren, haben die Flucht ergriffen. Aus Angst?

Wir folgen ihren Spuren, stapfen durch knietiefen Schnee, finden darin kleine Kohlebrocken, gehen weiter und stehen plötzlich vor einem Loch. Mit kaum zwei mal zwei Metern Durchmesser ragt es in den Boden. Wie tief? Wir werden es erfahren, sobald wir mehr Glück haben und uns die Männer, die dort hinabsteigen, nicht mehr entwischen.

Abstieg einer Stadt. Walbrzych ist ein Ort, der von der Welt vergessen ist. Gerade einmal 400 Kilometer von Wien entfernt, braucht es dennoch acht Stunden, um hierher zu gelangen. Waldenburg nannten die Deutschen einst diese Stadt, welche nach dem Zweiten Weltkrieg polnisch wurde und in der heute 130.000 Menschen leben. Wer kurz vor Mitternacht eintrifft, glaubt sich verloren. Niemand ist auf der Straße, kein Auto, kein Mensch. Das „Sudety“ soll einmal das feinste Hotel Niederschlesiens gewesen sein. Doch auch wenn die Telefonnummer des Hauses bis heute im Internet steht, blieb in Wirklichkeit nur noch dessen Fassade. „Ausgebrannt“, „irgendwann in den 90er-Jahren“, sagen die Waldenburger, „und seither nie wieder eröffnet.“

Schlaglöcher pflastern den weiteren Weg – vorbei an den vom Russ geschwärzten Häusern, von denen der Verputz längst abgebröckelt ist. Was bleibt, ist der unverhüllte Blick in die Armut. „Stolz waren wir einst, von hier zu stammen, Achtung und Respekt zollte man uns“, erklärt der hagere Roman am nächsten Tag, „und jetzt rümpft der Rest Polens die Nase, sobald er Walbrzych hört.“ Roman ist 49, ausgemergelt und Teil des Verfalls seiner Stadt. Zehn Jahre lang schuftete er als Bergarbeiter in einer der etlichen Minen des Ortes. Noch in den 80er-Jahren zählte Niederschlesien zu den größten Steinkohlerevieren Europas, doch auf die Wende folgte der Abstieg.

Schlagartig schlossen die Zechen, 15.000 Kumpel verloren nach und nach ihre Arbeit – die ersten von ihnen erhielten stattliche Abfertigungen, die letzten bloß noch einen warmen Händedruck. „Unsere Stadt verkam, Alkohol, Gewalt und Verbrechen regierten“, erinnert sich Roman, der sich all die Jahre mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Und nun, 2010, ist die Krise schlimmer als jemals zuvor. Die wenigen Firmen, die mit Steuervergünstigungen hierher gelockt wurden, geraten ins Rutschen und kündigen erneut Tausende. Offiziell ist jeder Fünfte arbeitslos, in Wirklichkeit liegt aber bereits eine ganze Stadt in Lethargie – und besinnt sich auf das Einzige, was ihr noch geblieben ist: die Kohle.

„Kommt mir nach!“ Es ist erneut Nacht und Roman wandert über ein vom Schnee bedecktes Feld. Er will zeigen, dass sich Walbrzychs wahres Leben längst nur noch unter der Erde finden lässt. Vor einem Hügel hält er, schiebt ein paar Bretter zur Seite, kehrt den Schnee ab und gibt den Blick auf ein Loch frei. Ein Fuchsbau? Eine Höhle? Nein, ein Armenschacht – und davon gibt es allein in Walbrzych Hunderte. Darin wird illegal Kohle abgebaut. Wie – das werden wir gleich sehen.

Roman streift sich Handschuhe über, zieht eine Taschenlampe hervor. Schon zwängt er sich auf allen Vieren in das dunkle Loch, das gerade einmal 60 Zentimeter hoch ist. Nur Sekunden vergehen und Roman ist nicht mehr zu erkennen. „Kommt mir nach!“, ertönt aus dem Dunklen seine Stimme. Zögern. Schweigen. „Kommt schon!“ Wir warten, rutschen dann aber mit den Füßen voran in das dunkle Loch hinein. Enge! Es geht abwärts. Auf dem Rücken liegend, stoße ich mit den Beinen ständig irgendwo an. Das Herz schlägt bis zum Hals. Wir sind erst wenige Meter vorgedrungen, doch nichts ist mehr zu sehen, selbst Romans Stimme klingt plötzlich sonderbar fern. Wie weit ist er weg? Ich drehe mich auf den Bauch, liege nun flach auf dem kalten und feuchten Erdboden, atme tief. Der Blitz des Fotoapparates hellt den Schacht kurz auf und bringt ein bizarres Bild auf das Display der Kamera: Balken und Pfeiler, vielleicht einen halben Meter hoch. Sie stützen die Grubendecke ab – und sie sind morsch!

„Keine Angst, es ist sicher“, meint Roman, der sich nun mit der Taschenlampe nähert. In der Hand hält er eine Spitzhacke, die er in der Grube verstaut hielt. „Diese Schächte haben noch die Deutschen errichtet, sie sind oft mehrere hundert Meter lang, verzweigen sich und dienten schon damals dem Kohleabbau.“ Und nun, wo die Armut größer und die Lage für viele auswegloser wird, kehren die Menschen hierher zurück. Gruben wie diese, am nächsten Tag werden wir sie im Museum sehen: auf gemalten Bildern vom Kohlebergbau im 17. Jahrhundert.

Gejagt von der Polizei. Wir tasten uns vorsichtig voran, robben, auf dem Bauch liegend, langsam aus dem Schacht. Noch ahnen wir nicht, dass uns bald ein noch viel tieferer erwarten wird. Die Nacht vergeht, der nächste Tag bricht an. Wir wollen wissen, wo in Walbrzych überall gegraben wird und begeben uns auf die Suche. „Es wird schwierig“, warnt Roman, der zwar jeden Schacht kennt, aber auch weiß, dass die Schürfer vorsichtig sind. „Denn die Angst vor der Polizei ist groß – wer erwischt wird, der wandert wegen Diebstahls und Hehlerei ins Gefängnis.“ Es ist bizarr: während Banker und Spekulanten, die diese Krise überhaupt erst verursacht haben, ungeschoren davonkommen, müssen sich nun jene fürchten, die ganz am Ende der Kette stehen – als Unschuldige, als Opfer von etwas, das sie nicht einmal im Ansatz verstehen.

Tief im Wald treffen wir kurz vor der Dämmerung erstmals auf diese Menschen. Vier Männer – ihre Gesichter sind kohlrabenschwarz, ihre Jacken schmutzig, ihre Mienen aber freundlich. Sie stecken sich Zigaretten an, berichten von früher, als sie noch legal in der Zeche arbeiteten, gut bezahlt wurden und ihnen ein bescheidenes Leben möglich war. Und sie berichten vom Jetzt – von der Arbeit, der Anstrengung, der Angst und der Ausweglosigkeit.

„420 Zloty, gerade einmal 100 Euro, Arbeitslose krieg ich“, sagt Leszek, „wie soll ich davon eine Frau und zwei Kinder ernähren?“ „Klar,“ wirft Grzegorz ein, „ich könnte zu euch nach Österreich kommen, dort irgendeine alte Oma überfallen – doch bevor ich das tue, grab‘ ich lieber weiter nach Kohle, selbst wenn die Polizei sagt, ich bin kriminell.“ Die Männer sprechen so hastig wie sie rauchen, denn bevor es völlig dunkel wird, müssen sie noch einmal runter in den Schacht. „Und, kommt ihr mit?“ Nach dem Erdloch am Vortag, geht es nun vertikal in die Tiefe. Acht, neun, zehn oder zwölf Meter? Keiner von ihnen kennt die Antwort.

Sturz in den Tod. Über eine Art Sprossenleiter aus Holzpfählen steigen wir hinab. Sie sind rutschig und feucht. Ein Fehltritt und man stürzt ab – in den sicheren Tod. Angst? „Ja, klar ist die vorhanden“, gesteht Grzegorz, „in den letzten Jahren sind hier acht Menschen in den Gruben gestorben, der letzte erst vor einem Jahr. Aber was sollen wir machen? Hungern?“

Noch gefährlicher als ein Absturz ist aber ein plötzlicher Erdrutsch, dem die Schürfenden schutzlos ausgesetzt sind. „Ein wenig Erde kommt ständig runter“, sagt Daniel, der nun mit der Spitzhacke große Kohlebrocken aus dem Felsen stemmt, die Grzegorz in einen Kübel verfrachtet, der an einem Seil nach oben gezogen wird. Diesen nimmt Leszek am Grubenrand in Empfang und übergibt ihn an den zweiten Grzegorz, der die Kohle mit einem Sieb zerkleinert.

„In einen Sack gehen 50 Kilo Kohle“, erklärt dieser, „und wenn wir uns anstrengen und von früh bis spät durcharbeiten, schaffen wir 20 Säcke am Tag.“ Der Vierer-Brigade gelingt es so, eine Tonne Kohle täglich aus ihrem Mini-Bergwerk zu holen – und das an sechs Tagen die Woche. „Nur Sonntag ist Pause, da gehen wir mit unseren Familien in die Kirche und beten.“

Abnehmer für die Kohle, die die Männer um knapp 10 Euro je Sack, und damit der Hälfte des normalen Preises, liefern, finden sich in Polens Armenhaus reichlich. „So manch alte Oma wüsste bei so einem strengen Winter wie wir ihn heuer haben, längst nicht mehr, wie sie sich das Heizen leisten sollte, wenn es uns nicht gäbe“, sagt Grzegorz und schaufelt unter Schweiß den nächsten Sack voll.

Wie viele Menschen tun es der Brigade gleich und graben in all den Gruben der Stadt? Die Männer müssen nicht lang überlegen, als sie diese Frage hören – „denn halb Walbrzych gräbt“, meint Leszek, „aber glaubt ihr wirklich, wir tun das freiwillig? Glaubt ihr wirklich, wir würden das tun, wenn wir eine Wahl hätten?“ Es ist die Armut, welche all die Männer hierher in den Schacht gebracht hat. Es ist die Armut, die sie zum Äußersten treibt, sie Gefahren ignorieren und ihr Leben riskieren lässt – Tag für Tag und Nacht für Nacht aufs Neue.

Erschienen in NEWS 07/10

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