15 JAHRE NACH DEM KRIEG: Wieso Bosnien an Problemen erstickt und wie ein Österreicher das ändern soll.
Erst vor wenigen Wochen“, sagt Valentin Inzko, „war es wieder so weit: Eine Kantonsregierung wollte ihre Niederlage bei der Wahl nicht eingestehen und im Amt bleiben. Die Wahlsieger zogen schon ihre bewaffneten Sicherheitsleute zusammen. Eine Konfrontation stand unmittelbar bevor. Die Lage verschärfte sich, wurde brenzlig und drohte zu eskalieren.
Als der gebürtige Kärntner dies erzählt, steht er vor einem mehrstöckigen Bürogebäude in Sarajevos Innenstadt. Hinter ihm parken gepanzerte Geländewagen, die ihn durch ein Land 15 Jahre nach dem Krieg bringen. Vier Männer in dunklen Anzügen mit Ohrhörern, die Gewehre im Kofferraum, halten sich bereit. Es sind Beamte der Sondereinheit Cobra, abgestellt, um als ständige Schatten die Sicherheit ihres Chefs zu garantieren. Denn der ist der mächtigste Mann Bosniens – von vielen geliebt, von manchen gehasst. Ein „Diktator“, eingesetzt im Dienste der Demokratie.
Grenzen aus Blut. Bizarr? Ganz im Gegenteil: Inzko ist noch das Stabilste, was Bosnien derzeit zu bieten hat. 15 Jahre sind seit dem Ende des „Bruderkrieges“ zwischen moslemischen Bosniaken, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben vergangen. Ein Krieg, der mehr als 100.000 Menschen das Leben kostete und tiefe Wunden verlassen hat. Um sie zu sehen, braucht Inzko bloß aus seinem Bürofenster zu blicken. Dort drüben, auf der anderen Seite des Flusses, ragen Ruinen empor, bloß halb verdeckt von einem modernen Glasbau, der keck Normalität suggerieren soll. Normalität? In Bosnien heißt das, dass drei Volksgruppen, deren Mitglieder einander vor 15 Jahren noch ermordet und vergewaltigt haben, nun in einem gemeinsamen Staat friedlich zusammenleben sollen. Wie? Das legt der Friedensvertrag von Dayton fest.
1995 in drei Wochen ausgehandelt, liefert er bis heute eine Blaupause der Konflikte von damals. Auf Basis von Dayton entstanden ein schwacher Zentralstaat, zwei entlang ethnischer Grenzen verlaufende Gliedstaaten sowie zehn Kantone, die längst zu kleinen Königreichen konkurrierender Provinzfürsten geworden sind.
Bosnien heute, das sind viele Ministerien, mit noch mehr Politkern, die Gefallen gefunden haben an den Privilegien, die ihnen ihr Job bietet – und das in einem Staat, in dem offiziell 40 Prozent der Menschen arbeitslos sind. Bosnien heute, das ist aber auch das in Grenzen gegossene Misstrauen, beruhend auf den Morden und der Gewalt von gestern. Eine Struktur, die eine Rückkehr der Vergangenheit verhindern soll.
Valentin, der Letzte? Und eigentlich dürfte es in diesem Bosnien von heute längst keinen Valentin Inzko mehr geben. Schon sein Vorgänger hätte der letzte „Hohe Repräsentant der Gemeinschaft“ hier sein sollen. Und dessen Vorgänger ebenso.
„Ein Trugschluss“, wie Inzko sagt, während er durch Sarajevos osmanisch geprägte Altstadt spaziert: „Die internationale Gemeinschaft musste erkennen, dass das Land noch nicht reif ist, allein gelassen zu werden.“ Und wer sieht, wie die Passanten freudig begrüßen, ihn umarmen und in Gespräche verwickeln, muss glauben, dass sich die Bosnier längst an die Präsenz des „guten Diktators“ gewöhnt haben.
Der braucht sich vor der anstehenden Wahl am 3. Oktober nicht zu fürchten, auch wenn er sie vermutlich vor allen anderen lokalen Kandidaten haushoch gewinnen würde. Doch zur Wahl steht nicht Inzko, sondern Politiker, denen das Land meist weniger am Herzen liegt als dem Karrierediplomaten aus Kärnten. „Ja“, klagt Inzko, „Bosnien ist in den vergangenen Jahren leider noch korrupter geworden, während politisch Stillstand herrschte und seit der Krise wirtschaftlich auch Stagnation.“
Deshalb, so sagen es ihm die Leute auf der Straße, solle er auch viel häufiger von der „alten türkischen Peitsche“ Gebrauch machen: „Das ist die mit dem eingenähten Blei und den Dornen an der Spitze.“
Seine Vorgänger, zu denen auch Wolfgang Petritsch zählt, der wie Inzko Kärntner Slowene ist, taten dies oft. Einer, Paddy Ashdown, hat an einem einzigen Tag im Handstreich gleich 59 Politiker entmachtet. Auch Inzko könnte dies, denn seine Funktion wurde in Dayton mit fast diktatorischen Vollmachten versehen, um dem jungen, blutgetränkten Staat das Überleben zu sichern. Als Übergangslösung, die immer noch im Kraft ist.
Edis Kolar sitzt frustriert im Garten seines bis heute zerschossenen Hauses. Darunter verlaufen die Reste eines Tunnels, der während des Krieges Tausenden Bewohnern Sarajevos das Leben rettete. Er ermöglichte die Flucht aus der von den Serben belagerten Stadt, die Rettung ins befreite Gebiet. „Und heute?“, fragt Kolar trocken. „Nichts ist gelöst. Die internationale Gemeinschaft butterte zuerst viel Geld in diesen Staat und überließ ihn dann viel zu früh unseren korrupten Politikern. Die Serben wollen diesen Staat nicht, und der Streit wird so gelöst werden, wie es hier immer gemacht wurde: durch Krieg.“
Eine düstere Prognose, der Inzko wenig abgewinnen kann. Er hofft auf „junge Politiker, die bereit sind, das Land EU-tauglich zu machen und aus den vielen ungenützten Ressourcen Wohlstand zu schaffen.“
Ins Reich der Serben. Es geht nach Norden. Vorbei an Städten, in denen Moscheen die einzigen Neubauten darstellen, während so manches Wohnhaus aussieht, als habe der Krieg erst am Vortag geendet. Allein Saudi-Arabien pumpte 160 Millionen zur geistigen Erbauung ins Land. Viele fürchten bereits, dass sein Einfluss die traditionell liberalen Moslems allmählich radikalisieren könnte – gerade, weil die Perspektiven im Land wenig rosig wirken und so ein Nährboden für Extremismus gegeben scheint.
Die Autobahn endet jedenfalls schon nach wenigen Kilometern wieder, und die Fahrt führt über die Berge in eine andere Welt.
Banja Luka, Hauptstadt der serbischen Teilrepublik, wirkt aufgeräumter, sauberer und ein wenig wohlhabender als Sarajevo. Dafür hängen hier auch an jeder Ecke serbische Flaggen, und nichts erinnert an die Existenz eines gemeinsamen bosnischen Staates. „Warum auch?“, fragt Premier Milorad Dodik. „Dies ist ein unmögliches Land, ein Konstrukt des Westens.“ Mit jedem Satz ist seine Aversion gegenüber einem Gebilde zu spüren „das den Serben aufgezwungen wurde“. Doch mit der Alternative im Sinne eines Milosevic oder Karadzic kokettiert er nur, denn würde er mit seinen Sezessionsplänen ernst machen, könnte ihn Inzko – zumindest theoretisch – sofort seiner Funktion entheben.
Genau so, wie er es mit jenen korrupten Kantonspolitikern gemacht hat, die nicht weichen wollten und die – gäbe es ihn nicht – schon zu den Waffen gegriffen hätten.
Erschienen in NEWS 39/2010