GRIECHENLAND. Europas letztes Einfallstor. Wie ein Land vor dem Flüchtlingsansturm kapituliert. Und wieso heimische Polizisten in Hellas aushelfen. Der schockierende Report.
Als alles zu kippen begann, bezeichneten dies Experten und Politiker als „dramatisch“, ja „verheerend“ oder gar „ausweglos“. Starke Worte. Selten gehört. Doch selbst sie scheinen schwach angesichts der Bilder vom Rand der Europäischen Union.
Das erste entsteht früh am Morgen, als es bitterkalt ist, Nebel liegt und ein junger Mann im hintersten Winkel Griechenlands auf einer Steinmauer hockt. Blut fließt über seine Fersen. Die Hand ist zerschürft, die Hose ganz nass und schmutzig. Es ist Ismin, ein Ankömmling. Einer, der es geschafft hat, die Grenze zur EU zu überwinden. Später, bei der Polizei, wird er sagen, er stamme aus Palästina. Vielleicht glaubt man es ihm auch.
Als Blut floss. Jetzt erzählt er jedenfalls auf Französisch, wie er aufgebrochen ist – in der Nacht, in der Türkei: „Wir waren zu fünft, kämpften uns durchs Dickicht bis zum Evros vor.“ Der trennt, mal gemächlich, mal reißend, auf 200 Kilometern die Türkei von Griechenland und bildet somit auch die Außengrenze der EU. „Aufgehalten hat uns keiner, aber es war dunkel und ich hab‘ die anderen verloren.“ Allein watete er durch den Fluss, irrte umher, stürzte in einen Stacheldrahtzaun.
Erst als im Morgengrauen die ersten Häuser auftauchten, war er am Ziel. Nun streift er die nasse Hose ab, raucht hastig Zigaretten und wartet. Zuerst auf die griechische Polizei und dann, wie er sagt, „auf ein besseres Leben.“
Wie dieses aussehen soll, flimmert als Illusion tagtäglich millionenfach über die Bildschirme bis in die entlegensten Winkel der Welt. Es ist eine Verheißung, glühend heiß und anziehend wie ein Magnet: der Traum vom Job, vom Haus, vom Auto. Genau dieser Traum, durchkreuzt vom Krieg und Elend daheim, bringt sie hierher – die Afghanen, die Pakistani, die Iraner und Iraker, die Somalier oder eben die Männer aus dem Maghreb, wie Ismin einer sein dürfte. Ein Traum, der sie Tausende von Euro an Schlepper zahlen lässt, der sie laufen, alles riskieren und gar sterben lässt. Ein Traum.
In drei Tagen Traiskirchen. 400 Flüchtlinge hat die griechische Polizei hier zuletzt jeden Tag aufgegriffen. 400 mal Elend und Hoffnung zugleich. Ein Ausmaß, das Österreichs größtes Flüchtlingslager in Traiskirchen schon nach drei Tagen platzen ließe. 400 Flüchtlinge am Tag, macht 2.800 in der Woche und 12.000 im Monat – und das sind nur die Aufgegriffenen, wie viele insgesamt kommen, kann keiner sagen. Es sind schier unvorstellbare Zahlen, die die Evros-Region zu dem machen, was vor kurzem noch die Kanaren, Lampedusa oder Malta waren: das Einfallstor nach Europa und die vermeintlich letzte Hürde zur Verwirklichung des Traums.
Wie dieser weitergeht, zeigt sich ein paar Stunden später und ein paar Kilometer weiter. Dort, entlang einer Schnellstraße, gleich hinter der Provinzhauptstadt Orestiada, wartet eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern, ganz so als ob gleich der Bus käme. Es ist eine komplette Familie: Großvater, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen – gemeinsam geflohen aus Afghanistan, geschleust durch Länder, in denen die Armut kaum kleiner war, gekommen, um politisches Asyl zu beantragen. „Soldaten? Polizei?“, fragt Abdullah, der als einziger Englisch spricht, „wir sind niemandem begegnet. Aus Istanbul haben sie uns im Bus bis zur Grenze gebracht. Dann hieß es aussteigen und nach einer Stunde Marschieren waren wir hier.“
Endstation Griechenland: ein Staat, der selbst an der Kippe steht, halb bankrott und hoch verschuldet. Längst hat er aufgehört, dem Flüchtlingsansturm, dessen Dimensionen wohl auch jedes andere europäische Land ins Wanken brächten, noch irgendetwas entgegenzusetzen.
Es ist nur noch eine Zwangsverwaltung der eigenen Unzulänglichkeit, wenn nun tatsächlich ein Bus die Afghanen-Familie in ein Flüchtlingslager bringt, das mehr einem Gefängnis gleicht: Fylakio – von Stacheldrahtzaun umringt, streng bewacht, vollkommen überfüllt und von Willkür geprägt.
Im härtesten Lager. An der Rückseite des gelb getünchten Lagers ertönen Rufe: es sind Männer, eingepfercht wie Vieh, die ihre Arme durch Gitterstäbe zwängen, schreien, wüten, toben. Eine Kakophonie voller Anschuldigungen: kein Ausgang, keine Ärzte, kein Anwalt, keiner, der ihnen auch nur sagen würde, wie lange all das noch dauern soll. „Contentration Camp of Adulf Hitler“ (sic!) hat einer auf einen Kanton gekritzelt, „das ist nicht Europa, deswegen sind wir nicht gekommen“, brüllt ein anderer. Manche behaupten, bereits Monate festgehalten zu werden, andere wiederum dürften nach ein paar Tagen gehen. Der Grund dafür ist, dass Syrer, Iraner und Iraker nach einem halben Jahr in die Türkei abgeschoben werden, der EU-Beitrittswerber aber Flüchtlinge aus anderen Staaten nicht zurücknimmt.
Da jedoch die Lager entlang des Evros längst bersten, werden viele der Insassen binnen kürzester Zeit vor die Tür gesetzt. In der Hand, ein Schreiben der Grenzpolizei, in dem sie aufgefordert werden, das Land doch bitte entweder innerhalb von 30 Tagen freiwillig zu verlassen, oder um Asyl anzusuchen. Letztlich nichts mehr als ein Laufzettel ins Leere, denn die Anerkennungsquote liegt in Griechenland unter einem Prozent und bei 52.000 offenen Verfahren hat der Staat irgendwann aufgegeben.
Der Staat als Schlepper. Was folgt, ist eine Offerte, die sich pragmatisch oder einfach nur zynisch nennen lässt. Denn direkt vor dem Lager parken Busse, die die Flüchtlinge, sofern sie über 60 Euro verfügen, nonstop nach Athen kutschieren. Dorthin, wo das Gros der geschätzten zwei Millionen „Illegalen“ im Land vermutet wird, wo schon ganze Stadtviertel verwahrlosen und der Zorn der Einheimischen von Tag zu Tag wächst. In Wahrheit ist dies nichts anderes als ein Pendel- Service direkt zu den Schleppern, zur nächsten Zwischenstation auf dem Weg nach Mitteleuropa und damit auch nach Österreich. Anbieter des praktischen Liniendienstes de luxe: der griechische Staat.
Dessen Versagen ist so evident, dass sich die Berichte darüber so lesen als würde über Guantanamo anstatt Griechenland geschrieben. „Ich habe selbst erlebt, dass die Inhaftierten in überfüllte, schmutzige Zellen gesperrt werden, in denen die Luft schlecht und das Licht düster ist. Ins Freie lässt man sie nie“, hält der aus Österreich stammende UN-Sonderberichterstatter Manfred Nowak nach einem Besuch einiger Lager fest. Zwei Anwältinnen, die im Auftrag der Menschenrechtsorganisation ProAsyl ebenfalls dort waren, konnten mitansehen, dass selbst Kinder ohne ihre Eltern eingesperrt würden und Inhaftierte aus Mangel an Betten auf dem Boden neben den Toiletten schlafen müssen.
Und dann der Hilferuf. Das Eingeständnis der eigenen Überforderung. Vor zwei Wochen bat Griechenland die EU um Unterstützung, forderte dass die europäische Grenzschutzagentur Frontex seine „schnelle Eingreiftruppe“ (Rabit) schickt. 175 Beamte aus 25 Mitgliedsstaaten, davon 17 aus Österreich, sind mitsamt ihrer Gerätschaft inzwischen an der Grenze eingetroffen. Ihre Mission? Präsenz zeigen, patrouillieren, aber auch besänftigen. Denn Europas Öffentlichkeit fürchtet nicht zu unrecht, dass die Odyssee der Flüchtlinge in einem griechischen Drama vor der eigenen Haustür enden könnte.
Der EU-Masterplan. Also setzt die Inszenierung ein. Die Zahl der Kameraleute, die beruhigende Bilder in die warmen Wohnzimmer liefert, ist größer als die der zu filmenden Polizisten. Und selbst der Chef von Frontex, der Finne Ilkka Laitinen, meint im Gespräch mit NEWS, „dass es nie gelingen kann, die Grenze völlig dicht zu machen.“ Letztlich hegt die EU längst Pläne, was geschehen soll, wenn Frontex wieder abzieht – und das wird schon im Jänner der Fall sein – nämlich der Weg hin zu einer Aufteilung der Asylsuchenden auf die EU-Mitgliedsstaaten. Doch was das an den geplatzen Träumen vom Evros ändern soll, scheint auch Brüssel noch nicht zu wissen.
Erschienen in NEWS 45/10