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Gaddafis Gestrandete

FLÜCHTLINGE. Ausgebeutet, beraubt, verjagt. Zehntausende „Arbeitssklaven“ entkamen dem libyschen Horror, eine Million sitzt weiter fest. Bei den „Ausgespuckten“ von Ras Ajdir.

Zelt reiht sich an Zelt. Kilometerlang, bis hoch zum Horizont, wo die Sonne über Libyen aufgeht. Für Abdellah Goz bricht der zweite Tag in seinem dritten Leben an. Er ist 19, kriecht gerade aus dem weißen Zelt, schüttet ein wenig Wasser in seine Hände und beträufelt sein Gesicht damit. Morgendusche. Rechts und links tun es ihm Hunderte Männer gleich. Im ganzen Lager sind es Tausende, die nun Schlange stehen, Essen ausfassen. Sie alle fragen sich, was aus ihnen werden soll.

Militär gegen Massenmord? Hier sind sie nun gestrandet. In Tunesien. In Sicherheit. In Ras Ajdir, einer gemeinsam von UNO, Rotem Kreuz und Armee eilig errichteten Zeltstadt, gleich hinter der Grenze zu Libyen. Nur wenige Kilometer weiter, die schnurgerade Straße durch die Halbwüste entlang, liegt das Land, das immer mehr ins Chaos abgleitet. Wo Aufständische Städte einnehmen, ein ins Wanken geratener Diktator wie ein angeschossener Löwe zurückschlägt und Amerikaner wie Europäer angesichts des Mordens selbst einen Militäreinsatz nicht mehr ausschließen. Von dort drüben, wo bereits mehr als tausend Menschen bei den Kämpfen starben, während Muammar al-Gaddafi weiter um seine Macht ringt, sind sie zu Zehntausenden gekommen – die „Ausgespuckten“ von Ras Ajdir.

Europa – ein ferner Traum. „Heute muss ein guter Tag werden, denn gestern war er schlecht und vorgestern noch schlechter“, sagt Abdellah, der sehnige Schwarze, der so lange in Jahren rechnete, bis er begriff, dass ihm nur noch Tage blieben. Sein erstes Leben begann in Ghana an der Küste Westafrikas, wo er in einer Autowerkstätte, ein wenig außerhalb der Hauptstadt, arbeitete. Als Gehilfe bekam er, so wie es dort üblich ist, bloß eine warme Mahlzeit am Tag als Lohn. „Ich war 17, als ich mich aufmachte, ein besseres Leben zu finden“, erzählt er, während er nun mit ein paar seiner Landsmänner auf der Suche nach Brennholz durch das Lager streift. „Mein Ziel war Europa. Wie für jeden, der bei uns weg will.“ Aber Europa blieb ein ferner Traum. Zu teuer wegen der Schlepper. Zu gefährlich wegen der See, die es zu überwinden gilt. Abdellah schaffte es immerhin nach Libyen, in die an Öl reiche, aber an Arbeitskräften scheinbar arme Diktatur des Muammar al- Gaddafi.

Als Illegaler startete er in sein zweites Leben, in diesem für ihn so sonderbaren Land. „Ich merkte bald, dass die Araber uns Schwarze hassen. Wir waren wie vogelfrei, rechtlos, immer in der Angst, von der Polizei angehalten, bestohlen oder geschlagen zu werden. Also arbeiteten wir so viel es ging und sperrten uns, sobald es dunkel wurde, in den Unterkünften ein.“ 500 Euro zahlten ihm die Italiener, auf deren Baustellen Abdellah anfangs schuftete. Als sie ihn nicht mehr brauchten, kam er als Schweißer bei einer libyschen Firma unter und erhielt die Hälfte an Lohn. „Was ich nicht heimschickte, sparte ich und träumte davon, in einigen Jahren damit nach Ghana zurückzukehren, um eine eigene Werkstatt aufzumachen.“

Eine Stadt unter Waffen. Aber dann waren da diese Bilder, die Abdellah nicht verstand. Abends, wenn er schmutzig von der Baustelle heimkam, liefen sie im Fernsehen. Aufstände, Proteste, Schüsse, Anarchie. Es sollte bloß Tage dauern, bis das Flimmern aus der Ferne vor Abdellahs Tür stand. „Ganz Tripolis hatte plötzlich Waffen: Macheten, Pistolen, Gewehre. Banden zogen von Haus zu Haus, rafften an sich, was sie kriegen konnten.“ Abdellah wollte nur noch eins: weg! Aber wie? Italiener, Briten, Deutsche, Österreicher – die Europäer waren von ihren Regierungen längst ausgeflogen worden.

Doch darauf brauchten geschätzte 1,2 Millionen Afrikaner und Asiaten, die in der Hackordnung der „globalisierten Gastarbeiter“ viel weiter unten stehen, nicht hoffen. Sie mussten entscheiden: bleiben und hoffen oder flüchten und sich fürchten. 200.000 Menschen riskierten es, schlugen sich bis nach Tunesien oder Ägypten durch, doch eine Million Gastarbeiter sitzt weiter in Libyen fest. 120 Kilometer sind es von Tripolis bis zur rettenden tunesischen Grenze. Eine Fahrt entlang der Küste, durch einen Landstrich, der weitgehend von Gaddafi-treuen Truppen kontrolliert wird – fast zwei Tage sollte Abdellah für die Reise in sein drittes Leben benötigen und dabei nie sicher sein, ob er jemals dort ankommen würde. „Alle paar Kilometer gab es Checkpoints, insgesamt sicher 70“, berichtet er, „teils war Armee dort, teils einfach Banditen.“ Mal für Mal blickte er in den Lauf der Gewehre, und Mal für Mal fanden die Bewaffneten mehr von den 3.000 Dollar an Ersparnissen, die Abdellah, über den ganzen Körper verteilt, versteckt hielt.

Am Ende blieb ihm nicht mehr als seine schwarze Hose, das grüne T-Shirt und der schwarze Kapuzensweater. So steht er vor dem Zelt. Seine Träume, seine Hoffnungen, all das, wofür er zwei Jahre gearbeitet hatte, landeten in den Taschen von Gaddafis Schergen. Und trotzdem: Abdellah und die Tausenden anderen in Ras Ajdir, hinter denen ähnliche Erlebnisse liegen, klagen kaum. „Verwende Geld, um dein Leben zu retten, und nicht das Leben, um dein Geld zu retten“, ist der Satz, der von Abdellah hängen bleibt.

Keiner weiß, wie viele Tausende Menschen hinter der Grenze noch warten. Die UNO zeigt sich besorgt, dass der Strom von Flüchtlingen nun von Tag zu Tag schwächer wird, während sich Anarchie und Bürgerkrieg ausbreiten. Sie fürchtet, dass die Flüchtenden bereits im Hinterland zurückgehalten werden und sich die wahre humanitäre Katastrophe gerade erst anbahnt.

An der Grenze kommt ein Bus voll geschockter Tunesier zum Stehen. Ihnen wurden selbst die Handys abgenommen, aus Angst, das damit gefilmte Grauen könnte seinen Weg nach draußen finden. Nur hie und da quert auch ein Wagen mit libyschem Kennzeichen die Grenze. Es sind Schmuggler und Schieber, die in alten Limousinen seit Jahren nach Tunesien kommen, dringend Benötigtes einkaufen, um es ein paar Stunden später in Gaddafis bröckelnden Bastionen teuer zu verkaufen. Sie halten nur kurz, tun so, als herrsche drüben Alltag. Die Tunesier beäugen sie kritisch, hoffen sie doch nach ihrer eigenen Revolution auch auf den Diktatorensturz beim Nachbarn.

Bei den Ungewollten. Im Lager von Ras Ajdir hat sich rasch dieselbe Hackordnung gezeigt, die zuvor schon auf Libyens Baustellen galt. Die Ägypter, von denen über 70.000 nach Tunesien geflüchtet waren, sind schon verschwunden. Ihre Regierung hat sie zurückgeholt, die deutsche Marine stellte Schiffe zur Verfügung, die Amerikaner richteten eine Luftbrücke ein. Auch die Chinesen sind weg, und selbst die Vietnamesen besteigen nun Busse, die sie zum Flughafen bringen. Wer bleibt, stammt entweder aus Ländern, die sich die Heimholung ihrer Bürger nicht leisten können und auf internationale Hilfe angewiesen sind, oder aus Staaten, die als solche kaum noch existieren: Es sind Somalier, Sudanesen, Westafrikaner, Bangladescher – 30.000 Menschen insgesamt.

Und so nimmt, als die Sonne längst hoch am Himmel steht, eine bizarre Lotterie ihren Anfang. Hunderte Bangladescher harren seit Stunden aus. Im Schatten der wenigen Eukalyptusbäume haben sie inmitten der wachsenden Müllberge einen Kreis gebildet. Ihre fast wertlos gewordenen Reisepässe liegen in einem geflochtenen Korb. Der Mann mit dem Megafon in der Hand spielt die „Glücksfee“, greift wahllos in den Korb und zieht nun einen Pass nach dem anderen heraus. Namen werden verlesen. Deren Träger schnallen sich hastig die wenigen Habseligkeiten, die ihnen geblieben sind, auf den Rücken und eilen zu einem Bus mit laufendem Motor, so als ob ihnen jederzeit noch jemand ihr „Ticket zurück“ abspenstig machen könnte. Ein paar Hundert sollen nun Tag für Tag mit UN-Geld ausgeflogen werden.

Schuften und schlafen. Shohag Sajjad war bislang nicht dabei. Reis kochend kauert der 22-Jährige mit seinen einstigen Arbeitskollegen im Zelt, berichtet von der Familie zuhause in Bangladesch, der Armut, den vielen Geschwistern und den steigenden Preisen. „Als ich 17 war, sagte mein Vater, ich müsse ins Ausland: arbeiten, Geld heimschicken.“ So landete Shohag zuerst auf Baustellen im Sudan und schließlich in Libyen. Schuften, schlafen, schuften, dazwischen ein wenig mit der Heimat skypen und das Verdiente dorthin schicken. „Ein Jahr noch Libyen, dann zurück und ein kleines Geschäft eröffnen – das war mein Plan“, sagt Sajjad, dem auf der Flucht aus Gaddafis Reich auch alles Wertvolle geraubt wurde.

Es dämmert. Keiner weiß, was kommt. Sicher, irgendwann werden die meisten von ihnen wohl heimgeflogen werden. Doch, was dann? Abdellah und Abertausende andere kehren mittellos in die Not zurück. Europa bleibt ihr Traum. Doch, womit finanzieren? Wie die Schlepper bezahlen? Und wer wartet dort schon auf sie? Zelt reiht sich an Zelt, bis hoch zum Horizont, wo sich die Sonne über Tunesien senkt. Dahinter liegt Libyen. Längst in Dunkelheit.

Erschienen in NEWS 10/11

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