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An der Flüchtlingsfront

DER ANSTURM. Tausende Kilometer Flucht, eine letzte Grenze und ein Ziel: Österreich. NEWS fand das Versteck der Vergessenen.

DER EINSATZ. Aufgriffe, Mafia, Ausnahmezustand. Was soll Österreichs Polizei an Ungarns löchriger Schengen-Grenze ausrichten?

Der Kaffee ist kräftig, die Nacht noch lang und die Lage derweil ruhig. Auf dem Bildschirm sieht Tamás Rehe in den Wald huschen, Hasen über Felder hoppeln. Und wenn er Glück hat, kann er zur Abwechslung auch mal einen Betrunkenen dabei beobachten, wie der aus dem Dorfwirtshaus über einen Feldweg langsam heimtorkelt.

Mit einem Joystick bewegt Tamás die Kamera, die hoch über der Grenzstation von Röszke im äußersten Süden Ungarns montiert ist. Bis weit hinein ins benachbarte Serbien kann er sich dank ihr mit nur einem Schwenk zoomen.

Trotz schwärzester Nacht wirft sie ihm gestochen scharfe, grau gefärbte Bilder auf den Schirm. Kurz vor halb zwölf tauchen dort, wo gerade noch Schafe grasten, Menschen auf: Vier Gestalten, die an einer Lichtung entlangwandern. Grenzschützer Tamás wendet seinen Blick nun nicht mehr von ihnen ab, sieht sie über einen Zaun klettern und kann live mitverfolgen, wie sie zu Gesetzesbrechern werden.

„Und jetzt“, sagt er plötzlich, „jetzt haben sie ungarisches Staatsgebiet betreten.“

Er greift zum Funkgerät, gibt einer Patrouille draußen Koordinaten durch und stellt wenig später zufrieden fest, dass deren Fahrzeug auf seinem Schirm auftaucht. Was folgt, ist Flüchtlingsjagd wie im Computerspiel – zumindest hier drinnen, vor der Wärmebildkamera. Ein Spiel mit ungleichen Karten, in dem sich die vier Männer verstecken, als sie das Auto kommen hören und doch keine Chance haben, da Tamás seinen Kollegen trotz Dunkelheit zum Zugriff verhilft.

Das Schengen-Märchen. Eine halbe Stunde später kehren die Polizisten mit ihrem „Fang“ zurück: Zwei Inder und ein Afghane, bloß der vierte sei ihnen im letzten Moment noch entwischt und zurück nach Serbien gerannt.

Ein weiterer Erfolg, ein weiterer Aufgriff – fast 2.000 waren es schon in den ersten acht Monaten dieses Jahres entlang des 62 Kilometer langen Grenzabschnitts des Komitats Csongrád zu Serbien – und damit 15 Prozent mehr als im gesamten Jahr zuvor. Im Nachbarkomitat konnten noch mal so viele Illegale aufgegriffen werden. Mehr als 4.000 Personen also, die die Ungarn von der Schengen- Zone fernhielten. Ein schöner Erfolg?

Mitnichten, heißt es nun aus Österreich. Ein paar Schwerpunktkontrollen auf der A4 der Ostautobahn reichten aus, um das Märchen von den sicheren und undurchlässigen Schengen- Grenzen zum Einsturz zu bringen. Menschen, die wie Sardinen bei 35 Grad Hitze in Kastenwägen gepfercht waren oder sich im doppelten Boden eines Reisebusses versteckt hielten, kamen zum Vorschein. Schlepper, die ihre „zahlenden Passagiere“ in Ungarn dort hinein verfrachtet hatten und keine weiteren Kontrollen befürchten mussten.

Mehr als 200 Aufgegriffene binnen weniger Tage lassen fragen, wie viel Hunderte sich wohl in Wochen ohne Fahndungsdruck den Weg nach Österreich bahnen.

Sind die Ungarn also faul, nachlässig und zu sorglos bei der Überwachung der gemeinsamen Grenzen? Innenministerin Mikl-Leitner plant noch nächste Woche zwischen 20 und 30 heimische Beamte zur Unterstützung zu entsenden. Ein Tropfen auf den heißen Stein? Eine PR-Aktion zur Beruhigung? „Nein, so würde ich das nicht sehen“, entgegnet Gábor Eberhardt, Leiter der 300 Mann starken Grenzpolizei in Röszke, „wir tun unser Möglichstes, aber auch die Österreicher werden erkennen, dass sich eine Grenze nicht Meter für Meter überwachen lässt – weder mit Kameras noch mit Patrouillen.“

In der Zelle der Tränen. Dherru, dem eben fest genommenen Inder, und seinen zwei Gefährten wurde sie dennoch zum Verhängnis. Beißender Gestank durchdringt die Arrestantenzelle in Röszke, in der die drei nun kauern. Seit drei Monaten seien sie unterwegs, schon Tage hätten sie weder gegessen, noch die Möglichkeit gehabt, sich zu waschen, berichten sie. Und plötzlich kullern Tränen über Dherrus Wangen: „Meine Eltern sind arm, sie haben all ihren Besitz verpfändet und verkauft, um die Schlepper zu bezahlen – 6.000 Dollar! Und ich sollte arbeiten, hier bei euch in Europa, Geld heimschicken, fortan für die Familie sorgen.“ Daraus wird nichts. Die Ungarn stellen fest, dass er schon am Tag zuvor im Nachbarkomitat erwischt worden war und damit wohl erst einmal ins Gefängnis wandert. Und danach? „Zurück nach Serbien“, sagt Kommandant Eberhardt, wohin seine beiden Gefährten bereits am nächsten Tag gebracht werden. Zurück an den Start also, im Spiel um das weitere Leben, das sie längst verloren haben.

Im Dschungelcamp. Serbien, Subotica: die erste Stadt gleich nach der Grenze. Maria Theresiopolis hieß sie einst in der Monarchie. Heute gilt sie als Sammelpunkt für Flüchtlinge auf dem Weg nach Norden. Seit Griechenland, de facto bankrott und dem Abgrund nahe, aufgehört hat, dem Flüchtlingsansturm an seinen Grenzen noch irgendetwas entgegenzusetzen, brechen auch hier in Serbiens Norden die letzten Dämme. Die Ungarn vermuten „Tausende Flüchtlinge“ im Dickicht der Wälder und der Abgeschiedenheit billiger Pensionen – je nachdem, wer wie viel an die Mafia für seine Schleppung bezahlt.

In Prozivka, im Süden der Stadt, liegt eine Gruppe von Männern im Schatten der Bäume in einer Wiese. Sie haben Feuer entfacht, grillen Maiskolben vom nahen Feld. Libyer, Tunesier, Syrer – die Kinder der Revolution in der arabischen Welt an den Toren zum Abendland. „Zukunft? Bei uns?“, fragt Abu, der Libyen vor zwei Monaten verlassen hat: „Vielleicht in zwei Generationen.“ Von Gaddafis Sturz hat er gehört, besonders zu kümmern scheint er ihn nicht.

Auch die anderen Araber, die hier auf ihre Chance namens Europa hoffen, können „dem Gerede von Freiheit und Demokratie“ in ihren Heimatländern nicht viel abgewinnen: „Versteht ihr nicht“, meint Muhammed, „wir wollen so leben wie ihr: Autos, Frauen, Job, Geld. Deswegen sind wir hier und deswegen werden wir auch nicht weichen.“

Der Traum Europa, der Traum vom leichten Leben – dass er längst ausgeträumt zu sein scheint, will hier keiner glauben. Auch nicht ein paar Meter weiter, am Ufer eines braunen Rinnsals, im Dickicht des meterhohen Gebüschs.

Dort haben Inder, Pakistaner und Afghanen Quartier bezogen. Sich aus Baumstämmen und Sträuchern behelfsmäßige Unterschläge gezimmert, die sie vor dem Regen schützen sollen. Sie schildern ihre monatelangen Odysseen in Richtung Europa, berichten von Polizisten, die sie schlugen und Grenzern, die ihnen ihr letztes Hab und Gut abknöpften. Sie erzählen vom Hunger, von Schmerzen, von Krankheiten – und vom unbändigen Willen, dennoch nicht aufzugeben. Manche haben schon mehrmals versucht, die Grenze nach Ungarn zu überqueren. Einige hätten es geschafft, wären angekommen an ihrem Ziel, der Verheißung, dem Glück – „und egal, wie beschwerlich das Leben dort auch sein mag“, sagt Ali, der 17-jährige Afghane aus Kandahar, dessen Vater Lehrer war und dem Bombardement der Amerikaner zum Opfer gefallen ist, „es wird immer noch besser sein als bei uns zuhause.“

,Wie ist dieses Österreich?‘ Teils sind es Kinder, die oben, nahe am Friedhof, ihre Pappkartons aufgeschlagen haben. Einer von ihnen hat einen Kalender aus einem Abfallkontainer gefischt. „Alpenkalender 1999“, zwölf Impressionen aus Österreich. Die Runde blickt staunend auf die Bergpanoramen, auf das gleißende Licht der Sonne, die grünen Täler und den weißen Schnee. „Ja, Ungarn ist nichts für uns“, verrät Ali dann, „das sagen alle. Österreich ist das erste gute Land. Dorthin wollen wir. Aber wie ist dieses Österreich eigentlich?“

Erschienen in NEWS 37/2011

Das Video zur Reportage

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