MITTEN IM KAIRO-CHAOS. Gewalt, Tränengas, Tote. Die Revolte gegen die Macht der Militärs. Und die Wahrheit über die Profiteure im Ägypten von Morgen: die Islamisten.
Für Hasan steht alles auf dem Spiel. Sein Augenlicht, sein Leben, seine Zukunft. Kehrt er zurück, wird es so sein wie damals, Anfang des Jahres: junge Menschen, enthusiastisch, mutig, tapfer, zu allem bereit. Ein gemeinsamer Feind, ein Ziel, eine alles verbindende Hoffnung: das freie, das bessere Ägypten.
Hasan weiß aber auch, wie die Wirklichkeit auf dem Tahrir- Platz aussieht. Er erinnert sich an die Freunde, die sterben. An die Tränengasgranaten, die neben ihm einschlagen. Den bläulichen Rauch, den sie freisetzen. Der ihn husten, spucken, würgen lässt. Ihn zum Taumeln bringt, ihm die Kraft raubt. Er kennt die prügelnden Polizisten, die Schlagstöcke, die Gewalt. Weiß, was es heißt, wenn ein Regime, um sein Überleben kämpft. Er braucht nur in den Spiegel zu blicken, um zu sehen, was es angerichtet hat.
Verbündete und Feinde.
Hasan ist 23 Jahre alt, ausgebildeter Arzt und auf einem Auge erblindet. „Ein Gummigeschoß der Polizei, in den ersten Tagen der Revolution“, erklärt er, während er Mullbinden und Verbandszeug herrichtet.
Es ist früher Nachmittag am Tahrir-Platz, jenem zentralen Ort Kairos, wo schon einmal Geschichte geschrieben wurde. Dort, wo im Februar Hunderttausende den Langzeitherrscher Hosni Mubarak stürzten, hängen erneut Tränengasschwaden in der Luft. Wieder wird scharf geschossen, gibt es Hunderte Verletzte und bereits Dutzende Tote.
„Ich zögerte keinen Moment, hierher zurückzukehren“, sagt Hasan nun, „immerhin gilt es, das zu vollenden, was wir schon abgeschlossen glaubten. Jene zu stürzen, von denen wir annahmen, sie seien Vergangenheit.“
Er will weitererzählen, von der Hoffnung, die sie damals hatten, als Mubarak zurücktrat. Davon, dass sie es anfangs nicht fassen konnten, tatsächlich gesiegt zu haben. Und auch eingestehen, als wie naiv sich diese Annahme letztlich erweisen sollte. Doch ständig tragen Männer neue Verletzte heran. Vom Tränengas bewusstlos Gewordene. Von Gummigeschoßen Getroffene. Von scharfer Munition Verletzte. Blutende. Brüllende. Leidende. Opfer „der unvollendeten Revolution“, wie Hasan jene nennt, die er nun in inmitten des Tahrir- Platzes notdürftig verarztet.
Rund um ihn wächst längst kein Gras mehr. Pflastersteine wurden herausgerissen, zu Wurfgeschoßen umfunktioniert. Im ungleichen Kampf der jungen Demonstranten gegen eine gut gerüstete Polizei. Seit vergangenem Samstag wiederholt sich die Geschichte.
Nun ist aber nicht der Diktator der Gegner, sondern das Diktat des Militärs. Jene Männer in Uniform, die versprochen hatten, dem Volk zu Demokratie und Freiheit zu verhelfen, sind zu Feinden geworden. Vergessen sind die Fotos der jungen Revolutionäre, die Soldaten auf ihren Panzern umarmen, sie küssen und ihnen Dankesgaben bereiten. Die Demonstranten müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, die wahren Pläne der Generäle zu spät durchschaut zu haben.
Die Taktik der Militärs.
„Ja, wir waren da schon ein wenig blauäugig“, gesteht Mabrook al-Asch im Gespräch mit NEWS ein. Er ist ein stämmiger, kräftiger Mann in Camouflage- Hosen. Ein Blogger, einer der führenden Figuren aus der Generation Facebook, der mit der Jugendbewegung des 6. April damals ganz vorne stand im Kampf gegen das Regime Mubarak.
Nun berichtet er von „13.000 Menschen, die seit Februar vor Militärtribunale gestellt wurden“, von inhaftierten Bloggern und gefolterten Aktivisten. Er schildert, wie das Militär den Übergang zur Demokratie verschleppte, Zeit gewann, ehemalige Mubarak-Getreue schützte und zuließ, dass diese bei den am kommenden Montag beginnenden, sich insgesamt fast drei Monate lang hinziehenden Parlamentswahlen kandidieren.
„Es hat sich nichts geändert: Das Militär will sich auch in Zukunft Sonderrechte sichern, über der Verfassung stehen, keinen Einblick in sein Budget zulassen und die Macht nicht abgeben. Es ist wie damals bei Mubarak.“
All das verwundert wenig angesichts der Geschichte von Ägyptens Armee, welche mit fast einer halben Million Soldaten die zehntgrößte Streitmacht der Welt stellt. Seit der von den „freien Offizieren“ um Nasser angeführten Revolution im Jahr 1952 ist sie zu einem Staat im Staate geworden.
Die Rolle der Amerikaner.
Alle bisherigen Präsidenten entstammten ihren Reihen, und sie kontrolliert mit eigenen Betrieben, Immobilien, Restaurantketten und Tankstellen weite Teile der Wirtschaft. Offiziere verfügen über Privilegien, von denen die breite, verarmte Masse der Ägypter nicht einmal zu träumen wagt.
Hinter hohen Mauern entlang Kairos Nilpromenade verbergen sich ebenso exklusive Militärspitäler wie noble Rückzugsresidenzen für die Generalität. Der für gewöhnlich gut informierte militärische Fachverlag Jane’s schätzt das jährliche Gesamtbudget der Armee auf 4,5 Milliarden Dollar – wobei ein Viertel davon direkt von den USA an den Verbündeten am Nil überwiesen wird, das dort wiederum sogleich in Waffen amerikanischer Herkunft reinvestiert wird.
Die Armee kann kein Interesse daran haben, ihre Sonderstellung allzu schnell und freiwillig aufzugeben. Und auch die USA setzen darauf, lieber ihre alten Vertrauten als letzte Instanz installiert zu sehen, als sich künftig mit den wahren Profiteuren der Revolution herumschlagen zu müssen.
Die Revolution wurde gekapert – abgewürgt und ausgebremst von nicht weichen wollenden Militärs und ausgenützt von Islamisten, welche sich noch im Frühling augenscheinlich im Hintergrund hielten. Mabrook al-Asch, der Revolutionär der ersten Stunde, sitzt nun mit seinen Getreuen ganz am Rande des Tahrir. Es ist Freitag, der 18. November, 24 Stunden später werden bereits die ersten Schüsse fallen.
Die Macht der Islamisten.
„Sie haben uns in Verruf gebracht“, klagt er, „behauptet, wir wären vom Ausland finanziert, verantwortlich für die Zunahme der Kriminalität und die steigenden Preise. Aber das ist nun vorbei, die Militärs haben den Bogen überspannt. Wir sind zurück am Tahrir, und wir werden nicht weichen.“ Da ist er wieder, der revolutionäre Eifer, der Glaube, ja, die Hoffnung, den Stillstand am Nil endlich überwinden zu können, den Anschluss zu finden an eine moderne Welt.
Doch der Blogger sieht auch, was sich seit jenen revolutionären Tagen des „arabischen Frühlings“ verändert hat. Er braucht nur über den Platz zu blicken, der einst der ihre war, um zu erkennen, wie ein „islamischer Herbst“ aussieht. Dort, mitten auf dem Tahrir, stehen eilig errichtete Holzbühnen, von denen bärtige Männer in Kaftanen und Kutten in Megafone brüllen. Längst haben sie den Platz mit Hunderttausenden von Anhängern unter ihre Kontrolle gebracht.
Das Trugbild des Westens.
Die Revolutionäre, die auf Facebook und Twitter setzen, stehen abgedrängt am Rand, fortan verurteilt zur bloßen Beobachterrolle. „Ägypten ist eben ein frommes Land“, meint Blogger al-Asch schulterzuckend, „und wir müssen die Islamisten wohl akzeptieren, wenn wir Demokratie wollen.“
„Der Islam ist die Lösung“, dröhnt es von der einen Bühne, „der Koran ist unsere Verfassung“ von einer anderen. All jene westlichen Beobachter, die vom direkten Übergang der Diktatur in einen säkularen Staat am Nil träumten und in ihren Analysen nicht aufhörten, den Einfluss der Islamisten auf Ägyptens Zukunft herunterzuspielen, werden hier Lügen gestraft. Kairo gleicht an diesem Freitag, bloß Stunden von der Gewaltexplosion entfernt, mehr einem Kalifat als einer Bastion des Wandels hin zu Freiheitsund Menschenrechten.
Voll verschleierte Frauen tragen Plakate vor sich her, auf denen die Freilassung von Scheich Rahman gefordert wird. Dabei handelt es sich um einen Kleriker ägyptischer Herkunft, der in Verbindung mit den ersten Anschlägen auf das World Trade Center im Jahr 1993 in den USA zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Dessen militante radikalislamische „al-Dschama’a al-islamiyya“ verübte etwa 1997 den Terrorakt im ägyptischen Luxor, bei dem 62 Touristen starben. In der EU und den USA wird sie als Terrororganisation geführt – und hier in Ägypten gründete sie gerade eine eigene Partei, die nun zu den Wahlen antritt.
Deren Sieger – sofern sie angesichts der Gewaltwelle überhaupt stattfinden – steht ohnedies bereits fest. Es sind die islamistischen Muslimbrüder beziehungsweise deren „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“.
Das Netz der Bruderschaft.
Sie waren dort, wo der Staat scheiterte, überzogen das Land, mit Spitälern, Armenausspeisungen und an Moscheen angeschlossene Sozialeinrichtungen. Wenn das Regime Mubarak sie verfolgen ließ, sie in den Kerker steckte und als potenzielle Terroristen brandmarkte, wirkten sie weiter aus dem Untergrund heraus. Es ist eine – gerade im Westen – von Mythen umrankte Verbindung, die 600.000 Mitglieder zählt und schon jetzt zu den Gewinnern im neuen Ägypten zählt. Es sind oft Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte oder Lehrer, die ihr Rückgrat bilden, schon da waren, als sich keiner kümmerte, und nun die Ernte einfahren.
Essam el-Erian ist einer ihrer Anführer, ein Kinderarzt, der zum moderaten Flügel der Bruderschaft gezählt wird. Während auf dem Tahrir bereits Steine fliegen und die Polizei auf Anweisung der Militärs mit scharfer Munition antwortet, gewährt er NEWS eines seiner äußerst raren Interviews (siehe links). Ein Wolf im Schafspelz? Einer, der es gelernt hat, abzuwiegeln und abzuwarten? Für Ägypten steht in diesen Tagen wieder einmal alles auf dem Spiel.
Erschienen in NEWS 47/2011