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Im Herz der Islamisten

ÄGYPTEN. Auf Facebook folgt die Scharia. Kommt mit den Wahlsiegern nun der Gottesstaat am Nil? Ein Einblick ins Innere der Islamistenszene.

Ach ja“, sagt der Bärtige beiläufig. Er blickt dabei fast genüsslich aus dem Fenster seines Büros im elften Stock hinab auf den Nil: „Sie finden uns auch auf Facebook und Twitter.“

Bloß Minuten zuvor sprach er noch von den Vorzügen der Vollverschleierung für Frauen. Der Notwendigkeit, Alkohol zu verbieten und seinem Graus vor weiblicher Freizüglichkeit in Form von Bikinis. Kein Widerspruch. Für Mohamed Nour genauso wenig wie für die, die er vertritt – die Salafisten. Deren „Nur“-Partei ist der Überraschungssieger der ersten freien Wahlen in Ägyptens Geschichte. Der Alptraum des Westens und der beste Beweis für dessen Naivität.

Zur „Facebook-Revolution“ kürten die Analysten den Sturz Hosni Mubaraks vor fast einem Jahr. Schrieben voll Euphorie von der liberalen Kraft all der „Twitterer“ und „Facebookler“, die damals den Tahrir-Platz besetzt hielten – und irrten sich gewaltig.

Ungläubig starren sie nun auf die Ergebnisse der gerade zu Ende gegangenen Wahlen. Zwei Drittel aller Stimmen für die Islamisten: mehr als 40 Prozent für die Muslimbrüder und fast 25 für die noch extremeren Salafisten. Das bevölkerungsreichste und wichtigste arabische Land gibt den Ton vor, bestätigt das, was sich schon in Tunesien abzeichnete und von Libyen bis bald auch Syrien seine Fortsetzung finden wird: den Siegeszug der Islamisten.

Doch wer sind sie? Diese Jünger Allahs. Was wollen sie? Den Gottestaat? Den zweiten Iran samt Hand abhacken und Steinigung? Und wohin steuern sie ihre Länder? Die Antwort liegt irgendwo zwischen Taliban und Erdogan – also Afghanistans Gotteskriegern und dem moderat-islamischen türkischen Premier. Der Weg zur Wahrheit hält so manche Überraschung bereit und beginnt dort, wo alles endete.

Der Tahrir-Platz ist an diesem warmen Wintertag gut gefüllt. Es sind Tausende, die nichts zu tun haben mit den Bildern, die wir aus dem Fernsehen kennen. Bärtige in Pluderhosen, in Gewändern, wie sie wohl zu Zeiten des Propheten im 6. Jahrhundert modern waren. Dazwischen ein paar Frauen im Niqab – der schwarzen Vollverschleierung, die in Saudi- Arabien üblich ist, wie sie in Ägypten aber bis weit in die 90er-Jahre kaum jemand trug.

Sie alle blicken auf eine rasch zusammengezimmerte Holztribüne. Auf Männer mit Mikrofonen, die einen Satz stets wiederholen. „Der Koran“, so schallt es über den Platz, „ist die Lösung. Die Scharia unser Gesetz.“ Es sind die Salafisten, die hier aufmarschiert sind. Jünger des Propheten, die sich nach dessen reiner Lehre sehnen, so leben wollen wie er – vor 1.400 Jahren.

Unfreiheit durch Demokratie.

Deshalb auch ihr Name, abgeleitet vom Arabischen „Salaf“, den Vorfahren. Sie sehen sich als die Frömmsten, die Reinsten, die Kompromisslosesten. Predigten im Untergrund, als Mubarak noch herrschte, sandten ihre Botschaften über die TV-Sender, die er ihnen gewährte und verzichteten im Gegenzug auf jegliches politisches Engagement. Auch als die Revolution begann, blieben sie anfangs still. „Wären wir damals aufgetaucht, hätten sie uns sofort eingesperrt und der Westen die Bestätigung dafür gehabt, dass es stimmte, wenn Mubarak vor den Islamisten warnte“, sagt deren Anführer, Emad Abdel-Ghaffour.

Er empfängt uns auf der Holztribüne, legt für uns aus dem Westen sein „Weichspülprogramm“ ein und kann doch nicht verbergen, wonach es ihm und seinen Anhängern dürstet. Denn es macht einen Unterschied, ob die Salafisten mit Journalisten sprechen oder zu ihren Anhängern in den Armenvierteln des Landes. Nur denen gilt die wahre Botschaft, Salafismus pur, die reine Lehre.

Und die lautet dann etwa, dass „Demokratie – also die Herrschaft des Menschen und nicht jene Allahs – eine Sünde“ sei, wie ein Kandidat im Fernsehen ausführte. Ein anderer bat dort darum, zwischen ihm und der unverschleierten Moderatorin eine Trennwand zu errichten, damit er sich in Zaum halte. So wird auch klar, weshalb die jeder Partei vom Staat vorgeschriebene, weibliche Pflichtkandidatin auf den Plakaten der Salafisten nicht mit Foto abgebildet wurde, während ihre bärtigen Brüder von den Hauswänden grinsten.

Beginnend bei den Frauen – denen ein anderer Kandidat die Verhüllung empfahl, „da ihre Gesichter wie Geschlechtsorgane“ seien – offenbart sich ein Bild, das jeden beängstigen muss, der das Land am Nil von früher kennt. Insbesondere aber jene, die die Folgen des Wandels Tag für Tag zu spüren bekommen. Einer von ihnen ist Pater Arsanious.

Bei den Verfolgten.

In seiner schwarzen Kutte wartet er vor der Sankt Marien- Kirche in Kairos Norden. Gläubige küssen unentwegt seine Hand, er lächelt milde und blickt auf die hohen Mauern und die Kameras, die sein Gotteshaus umgeben. „Ach Furcht“, sagt er, während seine Augen Milde ausstrahlen, „seit es uns Christen gibt, werden wir verfolgt. Gewalt gab es und wird es geben. Aber Angst ist ein schlechter Begleiter.“ Der Pater verschweigt lieber, dass erst vor drei Jahren ein Anschlag mit einer Nagelbombe auf seine Kirche verübt wurde. Er spricht auch nicht von der Rolle der Salafisten als Zündler, die aufhetzen und landesweit Gebetshäuser in Brand steckten. Es ist ihm nicht zu verdenken.

Denn hier leben Muslime und koptische Christen Tür an Tür – oft neben, selten miteinander und das Klima am Nil wird dieser Tage rauer.

Aber ist das, was die Salafisten von sich geben, vielleicht nur Getöse? Genauso wie ihr Gerede von den Pyramiden, die man verfallen lassen sollte, da sie Zeugnis einer verkommenen Kultur seien? Ist der Flirt mit der Scharia bloß Vorwand, eine extremistische Spitze?

82 Prozent fürs Steinigen.

Nicht, wenn man einer groß angelegten Umfrage des Pew- Instituts glaubt. Danach befürworten 77 Prozent der Ägypter, Dieben die Hand abzuhacken und gar 82 Prozent fordern, Sittlichkeitsverbrecher künftig zu steinigen. Die Salafisten sind nach diesen Maßstäben weit mehr in der Mitte der Gesellschaft als erwartet und das Land am Nil weit näher an Afghanistan als angenommen.

Und doch macht Frömmigkeit die Mäuler nicht satt – ganz besonders nicht in Ägypten, wo 35 Millionen Menschen gerade ein Euro am Tag zum Überleben bleibt. Liberale hoffen, dass genau diese Tatsache, den Islamisten zum Verhängnis werden könnte: bringen sie das Land wirtschaftlich nicht auf Vordermann, verlieren sie rasch die Unterstützung ihrer Wähler. Aber, wer sich auf die Suche nach den wahren Wahlsiegern begibt, den beschleicht bald eine gegenteilige Erkenntnis.

Erste Station: die Mustafa- Mahmoud-Klinik im feinen Westen Kairos. Umringt von einer stattlichen Moschee, umsorgen die Muslimbrüder hier Arme, schulen deren Kinder im Koran, bieten aber auch kostengünstige Behandlungen und versorgen tausende Familien mit Nahrungsmitteln. Ähnlich wie die Salafisten, die sich derartige Wohltaten von den Golfstaaten sponsern lassen,zählen landesweit hunderte derartiger Einrichtungen zum Erfolgsrezept der Bruderschaft. Sie waren dort, wo der Staat versagte, halfen im Namen Allahs und gerieten dabei nie in den Verdacht, korrupt zu sein. Und nun, nach Jahrzehnten, in denen die Brüder auf derartige Taten beschränkt blieben, können es ihnen die Armen erstmals danken – mit ihren Stimmen.

Wir wollen die noblen Gönner kennen lernen. Mit jenen sprechen, die über 40 Prozent der Stimmen errangen. An der Pforte der Klinik werden wir abgewiesen. „Kommt morgen nach Gizeh“, heißt es, „dort könnt ihr die Führer der Muslimbruderschaft treffen.“

Ein Rat an die Frauen.

Zum Abschied werden uns Folder überreicht – in Englisch, Französisch und auch auf Deutsch. Eine Fibel, die die Fragen aller Frauen beantworten soll, die scheuen, zum Islam überzutreten. Gedruckt im Auftrag der Bruderschaft, für Männer, die etwa eine Christin heiraten wollen. Der Zögerlichen, die Angst vor häuslicher Gewalt beschleicht, wird darin beschieden, „dass das Schlagen nicht zu heftig“ ausfällt und „das Gesicht zu vermeiden ist.“ Mitgeliefert wird das passende Koran-Zitat: „Wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich auflehnen, vermahnt sie, dann meidet sie im Ehebett und schlagt sie!“

Nun aber Gizeh, ganz nah an den Pyramiden, die zweite Station. Das „Hilton“ haben sie sich ausgesucht, die Herren der Bruderschaft. „Gott ist unser Ziel. Der Prophet unser Führer. Der Koran unsere Verfassung. Der heilige Krieg unser Weg. Der Tod für Gott unser nobelster Wunsch.“ Derart radikal trat die 1928 gegründete Muslimbrüderschaft einst auf – auch der Nachfolger Osama Bin Ladens als Al Kaida-Führer, Aiman al-Zawahiri, entstammt ihren Rängen.

Die heutigen Vertreter haben der Gewalt abgeschworen, kommen in Anzug und Krawatte und lassen ihr Parteiprogramm verteilen. Unter dem Punkt „Minderheiten“ finden sich darin deren Positionen zu „Frauen“ und „Kopten“. Dem Westen wird vorgeworfen, „zwar materiell, aber nicht moralisch fortgeschritten“ zu sein. Für den Tourismus werden „Einschränkungen“ gefordert, „die die Moral und Werte unserer Gesellschaft berücksichtigen und Besuchern vorab mitzuteilen sind.“

Das ist also die Partei, die künftig am Nil das Sagen hat. Und die unmittelbar nachdem sie ihren Wahlsieg eingefahren hatte, das Friedensabkommen mit Israel in Frage stellte – wenngleich sie ein solches Vorhaben im Wahlkampf stets bestritt. Der „Weichspüler“ ist ausgeschaltet, Ägypten aufgewacht. Und der Westen?

Erschienen in NEWS 02/2012

Hier gibt es das Video zur Reportage aus Kairo

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