IM TAL DER TRÄNEN. Wir frösteln, sie fürchten den Tod. In einem vergessenen Tal, dem nur noch die Kohle geblieben ist. Wir fanden bei klirrender Kälte Menschen, die sie von Zügen stehlen oder wie im Mittelalter nach ihr schürfen. Eine Reportage aus dem EU-Staat Rumänien.
Wenn es frisch geschneit hat, wirkt alles irgendwie lieblich. Die aufgelassenen Minen, die geduckten Häuser, die Pferdekarren auf der Straße. Eine Fahrt durchs Schiltal gleicht dann einem Gemälde von Bruegel. Eine Realität, wie weichgezeichnet durch den Schnee.
Es ist zu kalt, um lange draußen zu bleiben. Hier in Transsylvanien, inmitten der zerklüfteten Karpaten. Das Zittern der Hände, ein taubes Gefühl in den Beinen – ein Vorgeschmack dessen, was uns erwartet.
Wir halten in einem Ort am Ende des Tales. Suchen Zuflucht in dessen einziger offenen Spelunke. Fünf Alutische, Starkbier und Kaffee aus Plastikbechern. Oben hängt ein Fernseher. Rihanna läuft. „We found love in a hopeless place“ – ein brutales Video voller Drogen an einem dreckigen Ort der Hoffnungslosigkeit. Drüben stehen drei Spielautomaten. Es ist Anfang Februar, Vormittag. Wie benommen füttert eine blond gefärbte Mittfünfzigerin die Maschine mit Scheinen. Der Typ daneben tut es ihr gleich, zieht an seiner Zigarette, wirkt wie in Trance. Erst als der Automat bimmelt, blickt er kurz auf.
Werden wir hier finden, was wir suchen? Eine Fährte aufnehmen, die uns in den Abgrund führt?
Die Ankunft des Diktators.
Wir treffen Valter Cojman, dessen Leben dem des Tals gleicht. Hier aufgewachsen als die Steinkohle gebraucht wurde, als Rumäniens Diktator Ceausescu eine Zeche nach der anderen graben ließ. Kohle für Kraftwerke und Kombinate, heißbegehrt. Hohe Löhne, Ansehen und Prestige für 50.000 Kumpel und deren Familien. Valter, heute 46, war einer von ihnen.
„1987 kam Ceausescu zu uns, besuchte einen klinisch reinen Stollen, der extra für ihn angelegt worden war – während wir ein paar Schächte weiter mit 30 Jahre altem Gerät aus der Sowjetunion schufteten.“
Valter wurde vor ein paar Jahren in Pension geschickt, abgefertigt, abgewickelt – so wie die meisten Minen. Anfangs gab es noch stattliche Abschiedsgehälter für die Kumpel, am Ende nur noch einen warmen Händedruck und die Hoffnung auf vielversprechend klingende EU-Projekte, die dem Tal eine Zukunft nach der Kohle bescheren sollten.
Schnee klatscht an die Scheiben. Der Automat bimmelt erneut – 20 Lei Gewinn, 5 Euro. Der Typ ordert ein Bier. „Kommt“, sagt Valter, „Zeit, aufzubrechen.“ Durchs Schneetreiben zum Auto, vorbei an Wohnsilos, noch tiefer ins Tal. Bangen um das Leben herumstreunender Hunde, die neben dem Wagen herhetzen.
„Sie werden keine Freude mit euch haben“, warnt Valter nun, „es sind arme Teufel, die keine andere Wahl haben.“ Valter spricht von denen, die wir brauchen: Männer, die der Spur der Kohle folgen, in illegalen Schächten, selbst errichtet, hoch oben in den Hängen.
Dort sind wir nun. Sehen nichts. Bloß Schnee, Schnee, Schnee. Und Abdrücke darin. Ein Wagen, der sich irgendwann seinen Weg gebahnt haben dürfte. Einen zugefrorenen See überquert hat, Männer zu ihrer Schicht fuhr. Wir stapfen weiter. Denken ans Aufgeben, glauben schon, es wäre doch nur ein Gerücht, dass uns hierher gebracht hat. Dann der Anblick, der alles verändert.
Ein steiler Hang, über den prall gefüllte Säcke nach unten rutschen. Ein Mann, der sie auffängt, zu einem Berg türmt. Ja, er ist überrascht, uns zu sehen.
Oben muss sie also sein, eine der Minen, nach denen wir suchen. Ganz klein wirkt die Gestalt, die die Säcke dort zuschnürt. Sonst ist nichts zu erkennen. Wir wollen hinauf, pressen unsere Schuhe in den Tiefschnee, versinken darin bis zu den Knien. Der Hang ist tückisch, glatt, wird zur „Mausefalle“ in Rumänien. Der Wind wird stärker, das Schneetreiben heftiger, es fühlt sich an wie eine Rasierklinge, die dein Gesicht zerschneidet. Der Fotograf ist bergerprobt, verschwindet aus dem Blickfeld. Hier ein Dornenstrauch, der Halt bietet, dort ein Zweig, an dem es sich ein paar Meter hochziehen lässt. Vergeblich. Ich keuche, rutsche immer wieder ab, scheitere.
,Verschwindet, ihr ***söhne!‘
Tags darauf. Der selbe Ort, die gleiche Kälte, doch mehr Entschlossenheit, nachdem der Fotograf vom Blick in die Stollen berichtet hat.
Die Stimmung hat sich gedreht. Die freundlichen Worte vom Vortag haben sich in Beschimpfungen verwandelt: „Wir sind 17 Männer hier oben! Verschwindet, ihr ***söhne!“, schallt es uns vom Kamm entgegen. Und wer weiß, was alles noch, das Valter lieber erst gar nicht aus dem Rumänischen übersetzt hat. Die Männer fürchten die Polizei, wissen um ihr illegales Tun, das sie ins Gefängnis bringen kann. Wir wählen einen anderen Weg, versuchen dennoch über Serpentinen nach oben zu gelangen.
Es gelingt. Es ist ein bloßer Erdhügel, der uns empfängt. Schiefergestein, in das ein Loch gegraben wurde, welches in die Tiefe führt. Der Einstieg ist zwei Meter hoch, dann geht es geduckt hinunter ins Dunkle. Drei Männer schuften hier. Keiner der Schreihälse von vorhin ist in Sichtweite. Wir mustern die Mine, sehen Birkenstämme, die sie behelfsmäßig abstützen, spüren die Kälte, die in unsere Körper kriecht. Wer alte Zeichnungen von Stollen aus dem Mittelalter kennt, fühlt sich dorthin zurückversetzt.
Es sind große Brocken, die Viktor mit der Spitzhacke aus der Wand bricht. Er muss aufpassen. Immer wieder fällt ihm Gestein auf den Kopf. „Passiert ist noch nichts“, meint er, „aber wer weiß, vielleicht schaufeln wir uns hier auch unser Grab.“ 33 ist er, war, wie die anderen, zuvor in der Zeche beschäftigt – bis der Staat sie schloss, unprofitabel, ein Milliardengrab, hoffnungslos.
Die Babys und der Hunger.
„Wir drei haben alle Kinder. Dort drüben, Bogdan, unser Ältester, mit 48, gleich neun Stück. Wie sollen wir die über die Runden bringen, von den 50 Euro, die uns der Staat an Hilfe im Monat überweist“, fragt Viktor. Die Antwort gibt die Stichhacke und die Kälte.
Der Stollen ist erst ein paar Wochen alt. Von ihnen gegraben, im Dezember, als die Kälte kam. Und nun ist er ihre Zuflucht, sichert ihr Einkommen, ihr Überleben. „Außer Sonntag sind wir immer hier. Von früh bis spät. Kommen auf 20 Säcke, zu je 40 Kilo pro Schicht.“ Große Kohlebrocken, draußen vor der Grube feingesiebt und bei Einbruch der Dunkelheit weggekarrt. Für zehn Lei findet sie Abnehmer, in einem Tal, in dem viele längst ihre Wohnungen nicht mehr beheizen könnten, nachdem sie Rechnungen schuldig blieben und die Firmen ihnen rasch das Gas kappten.
Mehr als 300 Menschen hat die Kältewelle in Europas Osten bereits dahingerafft. Anfangs Obdachlose, bald aber auch solche, die einfach in ihren unbeheizten Wohnungen erfroren sind. Nicht irgendwo in Sibirien, sondern in Europa, wo mancherorts Zukunft zu einem Wort ohne jegliche Bedeutung verstümmelt ist. „Gegen Monatsende“, sagt Viktor, „können viele selbst die zehn Lei für den Sack Kohle nicht mehr zusammenkratzen.“ Sie lassen dann bei den Mineuren anschreiben: „Man mag uns Kriminelle schimpfen, aber nicht herzlos. Hast Du schon mal wie ich ein Baby vor Hunger brüllen gehört? Die Tränen der Mama gesehen, die ihrem Kleinen kein Essen mehr kaufen kann?“
Es knirscht im Gestein. Viktor hällt kurz inne, hackt dann unbeirrt weiter. Angst? „Ja, klar. Aber mehr um Frau und Kinder, die verhungern würden, wenn ich nicht mehr heim käme.“ Er war in Spanien, schuftete dort im Sommer auf Feldern, pflückte Erdbeeren und Tomaten. „Doch auch denen geht‘s jetzt dreckig, keine Jobs mehr, nichts.“ Die Männer lachen das Lachen der Verzweifelten, als sie über die Zukunft sprechen sollen. Gerade ist Rumäniens Premier nach wochenlangen Protesten zurückgetreten. Im Fernsehen wechseln sich die Berichte darüber mit den Sondersendungen zu den Kältetoten ab. Und hier, am Ende des Schiltals, hoch oben, in einer der unzähligen illegalen Minen? „Na ja, es wird sich schon ein anderer Korrupter als Premier finden, oder?“
Auf der schiefen Bahn.
Der Abschied fällt schwerer als der Abstieg. Die Fahrt durchs Tal hinaus führt vorbei an den letzten sieben verbliebenen Zechen. 160 Millionen Euro Verlust produzierten sie allein im Vorjahr. 2018 werden auch sie auf EU-Anweisung stillgelegt, da ab dann staatliche Subventionen verboten sind.
Noch aber kriechen lange Güterzug voll Kohle vorbei. Halten immer wieder. Und geben den Blick frei auf Szenen, wie sie sich in Österreich zuletzt vielleicht nach dem Krieg abspielt haben: Kinder stürmen auf die Geleise, klettern hoch in die Waggons. Ein Pferdekarren fährt vor. Ein Pfiff ertönt. Das Schaufeln beginnt. So lang, bis der Wagen voll ist. So viel, wie das Ross ziehen kann. Wer hier klaut, kann sich selbst Viktors Kohle nicht mehr leisten. Es sind Hunderte, aus dem ganzen Hungertal.
Veröffentlicht in NEWS 06/2012