KRISENFALL. Diese Familie hatte ein Leben wie Millionen – mit Jobs, genug Geld, einer Wohnung und Urlauben. Bis ihnen die Banken alles nahmen und sie ohne Wasser und Strom sitzen ließen. Der Abstieg der Familie Flores als Sinnbild für den Fall eines ganzen Landes.
Angst, Gier, Liebe und Hass. Dazu der Euro und unser aller Zukunft. Dies ist eine Geschichte über die großen Dinge im Leben. Sie ließe sich kitschig erzählen, wäre sie nicht viel zu traurig dafür. Es reicht schon, zu beobachten, wie ein Abend bei den Flores‘ in Sevilla, und Millionen anderer Familien in ganz Spanien, aussieht…
Die kleine Yumara läuft mit der Taschenlampe durchs Zimmer. „Gespenster spielen“, sagt die 6-Jährige und leuchtet ihrer Omi ins Gesicht. Die ist froh über den Lichtstrahl, denn ohne die Kerzen und dem fahlen Laternenschein, der von der Straße ins Zimmer dringt, wäre es stockdunkel und sie könnte nicht einmal mehr kochen.
Es ist nach zehn. Draußen hat es noch an die 30 Grad. Drinnen steht der Gaskocher auf dem Esstisch. Zwei Platten. Eine Pfanne. Darin Kichererbsen und Fisolen. Dazu Erdäpfel und kleine Stücke der spanischen Blutwurst. Ein Eintopf aus Almosen vom nahen Markt für’s „Cocido“, ein Nationalgericht, das aus der Zeit stammt, als Spanien noch arm war.
„Kein Wasser zu haben ist viel schlimmer als keinen Strom“, wird Ana, die Omi, später sagen. Sie weiß es, denn seit drei Monaten lebt sie ohne beides. Hier, mitten in Sevilla, in einer Wohnung, die ihr nicht gehört und für die sie keine Miete bezahlt. Mit ihrem kranken Mann, den zwei Töchtern und deren drei Kindern. Voll der Angst, „bald von Polizisten an den Haaren rausgezerrt zu werden, so wie sie es bei anderen schon gemacht haben.“
„Ohne Wasser ist es hart. Du musst Freunde haben, die die Wäsche für dich waschen. Wissen, wo Du hingehen kannst, um hin und wieder zu duschen. Und starke Männer, die Dir zumindest ein paar Kanister zum Trinken hochschleppen.“
Hätten die Flores Strom und einen Fernseher, würden sie dort das selbe sehen, was auch uns abends aufgetischt wird: ein Endlosdrama namens „Euro-Krise“, die gefühlt tausendste Folge. Der Inhalt heute: Nachrichten aus dem strauchelnden Spanien. Marode Banken, steigende Zinssätze, ratlose Politiker und das besorgte Gesicht der deutschen Kanzlerin, die nichts weniger gebrauchen kann als einen weiteren Staat, der in die Knie geht.
Ein Analphabet geht in die Kälte.
Aber anstatt in die Glotze, schauen die Flores’ im Kerzenschein in ihre Fotoalben. Versuchen anhand der alten Bilder zu rekonstruieren, wie es mit ihnen soweit kommen konnte. Wie es möglich war, dass sie alles verloren und hier im Dunklen endeten.
Auf einem der ersten Fotos ist Pancho, der Opi – heute 70 und unheilbar krank – als junger, fescher Mann. Es war das Spanien des Diktators Franco, in dem er aufwuchs. Bitterarm und abgeschieden von Europa. Nur sechs Monate drückte er die Schulbank, lernte weder lesen noch schreiben. Dann, an einem kalten Herbsttag des Jahres 1967, stieg er im luftigen Seidenblouson in Frankfurt am Main aus einem Zug. Angeworben von den Deutschen zur Arbeit in einer Panzerfabrik. Pancho schuftete hart, gönnte sich nichts und kehrte sieben Jahre später mit dem Gesparten aus der Kälte zurück. „So viel wie damals sollte ich mein ganzes Leben nicht mehr verdienen“, erinnert er sich und zeigt Fotos von der Bar, die er um das Geld in Sevilla aufmachte.
Die Fotos der Flores’ wechseln nun von Schwarz-Weiß zu Farbe, so wie deren Leben, das damals allmählich an Glanz gewann. Zwei Töchter werden geboren. Pancho zieht als Flamenco- Tänzer durch ganz Spanien. Ein Auto wird angeschafft, bescheidener Wohlstand hält Einzug. Da sind bald Bilder aus den 80er- Jahren: Meer, Sommer, Sonne, Urlaubsidylle. Antonia, die älteste Tochter wird Altenpflegerin. Ani, die Jüngere, geht als Kellnerin nach Mallorca und verdient 2.000 Euro im Monat.
‚Ihr wollt eine Wohnung? Kein Problem.‘
Der Aufstieg der Flores’ gleicht dem ihres Landes. Mit dem EU-Beitritt kamen die Förderungen aus Brüssel und befeuerten eine Bauwut, die keine Grenzen mehr kannte. Ein Netz neuer Autobahnen, das heute länger als das von Deutschland ist, durchzieht das Land. Dazu immer größere Flughäfen, protzigere Terminals und Hochgeschwindigkeitszüge, die mit 300 km/h durch die Sierras brausen. Und dann dieses eine Bild, das jeder Spanier kennt: ihr damaliger Premier Aznar mit George W. Bush auf dessen Ranch in Texas: „Beide, ganz lässig, mit den Beinen auf dem Tisch. Unser kleiner Premier, neben dem US-Präsidenten. Auf Augenhöhe! Da wusste ich: wir waren auf einmal wer“, erinnert sich Pancho.
Mit dem Euro beschleunigte sich der Höhenflug. Plötzlich war noch mehr Geld da, zu Konditionen, so billig wie nie. Ein Land plante, planierte, baute, betonierte – und schmierte. Ab den späten Neunzigerjahren entstanden in Spanien mehr Neubauten als in ganz Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. Wer jetzt nicht kauft, ist selber schuld, schrien die Banken den Bürgern zu. Wir zahlen, wir finanzieren, der Wert eurer Häuser wird sich vervielfachen und ihr braucht nur zu warten, um reich zu werden – das war die Message. Millionen Spanier folgten der Verheißung – unter ihnen auch die Flores’. 200.000 Euro Kredit für die Wohnung – ohne Eigenkapital, ohne Sicherheiten, nada. Was unglaublich klingt, galt in Spanien damals als ganz normal.
Und nun steht Ana mit ihren 67 Jahren vor einem weiß vertäfelten Eckhaus. Deutet auf die zweite Etage. „Dort, wo die Jalousien runten gezogen sind. Das war unsere Wohnung.“ Sie kämpft mit den Tränen. Beißt sich auf die Lippen. Wendet sich ab. Und erzählt, wie das Casino, zu dem ihr Land geworden war, seine Pforten schloss. Die Jobs waren auf einmal weg – erst ihrer, dann die der Töchter, die Kreditraten wuchsen weiter. Monat für Monat. Als sie 950 Euro erreichten, war Ana am Ende, doch die Bank präsentierte auch diesmal eine Lösung. Noch ein Kredit, ganz einfach, zur Überbrückung des ersten, das machen doch alle, meinte ihr Berater und deutete auf die Zeile, wo sie unterschreiben sollte.
Vier Millionen droht die Dologierung.
Und dann kam dieser eine Tag, der „Tag der Schande“, wie Ana sagt. Der Tag, an dem der Schlüssel zur Wohnung nicht mehr ins Schloss passte. „Ich war nicht mal daheim, als es geschah. Der Exekutor ließ meinen Enkel, einen 17-Jährigen, irgendein Papier unterschreiben! Als ich kam, saß er schon auf unseren Möbeln vor der Tür.“ Delogiert, zwangsgeräumt, ohne Chance auf ein Entgegenkommen. Szenen, wie sie sich mittlerweile täglich hunderte Male im ganzen Land abspielen. Seit 2009 kam es zu 500.000 Delogierungen. Weiteren vier Millionen Spaniern droht wegen ausstehender Kreditraten das gleiche Schicksal.
Was für die Flores’ folgte, war die Straße, der Park, das Bitten und das Betteln. „Wir waren wie wilde Tiere. Haben uns nachts im Gebüsch versteckt und untertags Metall gesammelt und verkauft“, sagt Ani, die vor Scham zu Boden blickt, während sie spricht: „Yumara, meine kleine Tochter, hat geglaubt, das alles sei ein Spiel.“ Es lag an der Omi, die Familie zusammenzuhalten. Einen Ausweg zu suchen, obwohl sie selbst nachts heimlich weinte, zu Gott betete, und doch daran dachte, sich umzubringen.
Spaniens Blase ist geplatzt. Landesweit ist jeder Vierte ohne Job, bei den Jungen schon jeder Zweite. Die Banken, die all der Gier Auftrieb verliehen, jedem, der seinen Namen schreiben konnte, einen Kredit aufschwatzten, lassen sich mit 100 Milliarden an europäischem Steuergeld retten. Und das ist nicht das Ende. Schon wird darüber spekuliert, die Notenpresse anzuwerfen, da die Rettungsschirme zu klein werden, angesichts der Größe des Desasters.
„Es wird noch Blut fließen“, prophezeit Pancho, „denn all die, die ihr Leben lang arbeiteten und nun ihr Heim verloren haben, bis zum Tod aber auf den Schulden sitzen bleiben und hungern, werden auf die Straße gehen.“
Es sind düstere Szenarien, die im Dunklen der neuen Zufluchtsstätte der Flores an die Wand gemalt werden. Hier gelandet sind sie nur dank „15M“, jener Jugendbewegung, die bis vor einem Jahr Plätze in ganz Spanien besetzt hielt und nun den Menschen hilft. „Das hier sollten Luxuswohnungen werden. Reine Spekulationsobjekte, zur Geldwäsche. Der Investor steht vor Gericht, ihm drohen 15 Jahre“, erklärt Juanjo von „15M“: „Im ganzen Land stehen 3,4 Millionen Wohnungen leer. Wir versuchen, einige zu besetzen, für die, die der Staat vor lauter Rettung der Reichen längst vergessen hat.“ Wie etwa die Flores’, die nun hier ohne Strom und Wasser hausen, eng aneinandergedrückt auf der Couch sitzen und sich jeden Tag fragen, ob das Schlimmste schon hinter oder erst vor ihnen liegt.
Erschienen in NEWS 32/2012