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Der letzte Bewohner seiner Straße

AUF DER SUCHE NACH DEM WAHREN AMERIKA.  DETROIT

 

Richard Brant hat alles, was er hier noch braucht, beisammen. Auf dem Nachttisch liegt die Bibel. An der Tür hängen die Bewegungsmelder. Und gleich daneben steht der Baseballschläger. Bibel, Bewegungsmelder, Baseballschläger – quasi die Dreifaltigkeit seines Lebens. „Und wenn’s hart auf hart kommt, hab ich zum Glück noch das Gewehr.“ So hält der 54-Jährige die Stellung. Harrt aus. Trotzt dem, was sich da draußen vor seiner Haustür abspielt.

Da draußen liegt Detroit. Eine Stadt, die einst einer Verheißung glich. Motor City USA. Der Geburtsort der industriellen Massenproduktion. Ford, Chrysler, General Motors. Neun von zehn amerikanischen Autos kamen aus den Hallen dieser Stadt. Detroit, das war Amerika: reich, prosperierend, Sinnbild der Stärke, Ausdruck seiner Allmacht.

250.000 zogen weg.

Detroit, das ist Amerika: arm, abgerutscht, die Jobs nach Übersee ausgelagert, die Konzerne angezählt. Ein Sinnbild des Abstiegs, ein Ausdruck der zu Ende gehenden amerikanischen Epoche. Zwei Millionen Einwohner hatte die Stadt einmal. Geblieben sind gerade noch 750.000. Allein im letzten Jahrzehnt nahm eine Viertelmillion Menschen Reißaus – das ist so, als ob ganz Graz plötzlich weg wäre.

Aber was bleibt, wenn eine Stadt geht? Außer den achtspurigen Highways, wo Verkehrsstaus im Fernsehen wie Volksfeste verkündet werden, da sie so selten geworden sind. Es sind Menschen wie Richard Brant. Ein beleibter Kerl, der einst der Verheißung gefolgt war. Raufging in den Norden, nach Michigan, und im Stahlwerk schuftete: Blech für die Boliden. Ungetüme, wie sie die Amerikaner liebten, als das Benzin noch billig war. Richard verdiente gut, kaufte sich mit seiner Frau eine dieser schönen Vorstadtvillen. Backstein aus den 20er-Jahren, feines Gemäuer, mit Vorgärten und viel Platz für die Flagge. Als alles abgezahlt war, hatte sich der Wert des Hauses bereits auf die Hälfte halbiert, und Richard war seinen Job los. Und heute? Sind er und seine Frau die letzten verbliebenen Bewohner ihrer Straße.

Geblieben ist nur die Gewalt.

Steht Richard auf seiner Veranda, was er ohnedies selten tut, sieht er dem Verfall direkt ins Auge. Vor ihm: Häuser, die seinem glichen und nun nur noch Ruinen sind. Zerborsten das Gebälk, oft ausgebrannt das Innere. Wuchernde Wildnis im Garten und benutzte Spritzen auf dem Boden. Dazwischen verblichene Fotos der letzten Bewohner. Die Erstkommunion der Tochter, das Geburtstagsfest des Opas. Und irgendwo eine Zeitung mit Präsident Bill Clinton auf der Titelseite. „Die da drüben sind nach Texas gezogen. Die daneben nach Florida. Und die dort hinten, so ’ne rattenscharfe Schwarze, die wurde erschossen.“ Ganz nüchtern erklärt Richard, wie sich seine Straße leerte. Wie es dazu kam, dass alle gingen und bloß er blieb.

Und dann die Sorgen, die all das brachte. Die Obdachlosen, die sich gegenüber einquartierten. Die Dealer, die ihnen folgten. Die Gewalt, die Waffen, die Schießereien. Die Einschussstellen auf Richards Veranda. Und die Fragen, die folgten. Beißend. Quälend. Gegenstandslos. „Denn, wohin sollen wir ziehen? Und womit ein neues Haus bezahlen? Wer kauft mir meines denn ab? Einmal war ein Makler da. Der meinte, es sei realistischer, ein Haus in Florida in der Lotterie zu gewinnen, als meines hier auch nur um 1.000 Dollar irgendwem anzudrehen.“ Wenn Richard so weiterredet, sagt, dass er Mitt Romney wählen wird, „weil Obama ja ein Muslim ist“, die Wahl aber ohnedies schon egal sei, da „uns bald der Antichrist heimsucht“ oder die „Muslime die Weltherrschaft an sich reißen“, die „USA aber auf alle Fälle untergehen werden wie das Alte Rom“: Wenn sich all diese wirren Gedanken Bahn brechen, dann wirkt dieser Richard wie der letzte Überlebende nach dem atomaren Fallout – und so ähnlich muss sich sein Leben auch anfühlen, wenn er die Jalousien unten und seinen Glauben hochhält. Aber verdenken, verdenken kann man ihm das nicht, denn der Fallout, der seine Stadt heimsuchte, gleicht einer Kernschmelze des kapitalistischen Systems.

Kernschmelze des Kapitalismus.

An der Oberfläche wirkt alles noch irgendwie normal. Die Fastfood-Ketten haben noch offen, aber die Burger werden schon durch schusssichere Scheiben gereicht. Die Polizisten patrouillieren noch, aber die 600 Morde im Jahr, die Detroit zur gefährlichsten Stadt der USA machen, können sie längst nicht mehr klären. Die Stadt dreht ganzen Vierteln die Versorgung ab, schließt Schulen, Spitäler, dünnt die letzten vorhandenen Buslinien aus und reißt Straßenlaternen ab. Detroit gibt sich und seine Bürger auf und lädt Medien dazu ein, dem „Resizing“, also den Rückbauplänen, zu applaudieren. Und dann steigt plötzlich Rauch auf, wir steigen aufs Gas, und Joe macht einen weiteren Strich in sein Buch.

Er ist Feuerwehrmann, lehnt entspannt am Einsatzwagen und blickt auf das Geschehen. Eines dieser Häuser, wie es sie zu Tausenden gibt, steht lichterloh in Flammen. Es könnte das von Richard sein oder das seiner einstigen Nachbarn. Das Gebälk bricht, Schaulustige filmen. Die Uhr zeigt halb zwei am Nachmittag. „Es ist unser vierter Einsatz heute“, sagt Joe, „das Haus stand leer – so wie immer. Wir vermuten Brandstiftung – so wie immer.“ Detroit wird warm abgetragen: Tag für Tag, Stunde für Stunde. 90.000 Häuser sind nur noch Ruinen, verlassene Quartiere, kaum den Boden wert, auf dem sie stehen. „Die Brände werden entweder zum Spaß gelegt, damit die Leute was zum Schauen haben“, meint Joe lapidar, „oder es sind die letzten Nachbarn, die zündeln, um sich so die Crackdealer vom Leib zu halten.“ Er wirkt nicht so, als ob er das eine oder das andere verurteilen würde.„Was soll’s, die Stadt ist ruiniert. Wer kann, zieht weiter. Wer nicht, muss sehen, wo er bleibt.“

Rette sich, wer kann.

So auch Cynthia, die vor den verkohlten Fassaden ihrer einstigen Behausung steht. Sie hat ein Foto mitgebracht, das sie selbst mit ihrer Tochter und deren Kindern auf der Veranda dieses Hauses zeigt. „Das war vor nicht einmal einem Jahr, damals schien alles noch irgendwie okay.“ Sie ist 63, wuchs in diesem Haus auf, ging gleich nebenan zur Schule und schildert ein Detroit in den blühendsten Farben. Heute ist nichts davon übrig. Rund um die zur Asche gewordene Stätte ihrer Kindheit ist die Prärie zurückgekehrt. Sobald es dunkel wird, bleiben bloß noch Gestalten, die wie Schatten durch die Gegend huschen. Menschen, die in ihrem Auto schlafen. Andere, die eine der Abbruchbuden zu ihrer neuen Zuflucht erkoren haben. „Irgendwie ist da etwas gehörig falschgelaufen“, ist der einzige Satz, den Cynthia zur Erklärung anbieten kann, „es muss wohl mit der Wirtschaft zusammenhängen.“

Es ist diese Ratlosigkeit, die hier so sehr verwundert. Sie hausen inmitten einer halben Apokalypse, in der Dritten Welt mitten in Amerika, und machen das doch keinem zum Vorwurf. Weder den Politikern noch sich selbst. „Ist halt so.“ Da wird klar, warum auf den letzten Werbebannern der Stadt lieber eine „Burgerrevolution“ plakatiert wird, da keiner auf die Idee zu einer „Bürgerrevolution“ käme.

In Rauch aufgegangen scheinen auch all die Milliarden Dollar, die Präsident Barack Obama am Höhepunkt der Krise 2009 nach Detroit pumpen ließ. Damals, als die drei großen Autokonzerne am Abgrund standen. Sie realisierten, dass ihre 20-Liter-Karren selbst in den Staaten kaum noch Abnehmer fanden. Als Obamas heutiger Widersacher Mitt Romney der Ansicht war, man solle den einstigen Stolz Amerikas eiskalt in den Bankrott schicken, so wie er es selbst als Finanzhai mit unzähligen Firmen getan hatte. Heute sprechen die Zahlen zwar für Obama. Die Konzerne bilanzieren positiv, sie produzieren gar schon den einen oder anderen Kleinwagen und zahlen ihren Managern erneut Millionen- Boni aus. Doch neue Jobs schufen sie keine, und so beginnt sogar die einstige Obama-Bastion Michigan ins Wanken zu geraten.

Rau, hart, stolz – Eminem.

Der Nachruf auf Detroit, die Todgeweihte, scheint vollendet – wäre da nicht etwas zutiefst Amerikanisches. Dieses rotzigfreche Wiederaufbäumen. Das Auf-den-Boden-Spucken und Weitermachen. Der Wille, sich trotz aller Widrigkeiten neu zu erfinden, der uns in Europa oft fehlt. Es gibt da diesen einen Fernsehspot, der genau das ausdrückt. Chrysler ließ ihn drehen und während der Super Bowl zur besten Sendezeit ausstrahlen. Er zeigt Detroit, wie es ist: rau, hart, dreckig, aber stolz. Eminem, der Rapper und Sohn der Stadt, der an der 8-Meilen- Grenze im Trailer-Home aufwuchs, steuert den neuen Chrysler durch die leeren Schluchten. Bleibt stehen, steigt aus und sagt trotzig in die Kamera: „Motor City. Das ist das, was wir tun.“

Erschienen in NEWS 42/2012

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