AUF DER SUCHE NACH DEM WAHREN AMERIKA: HOLLYWOOD
Kann ein braver Butler zum Blockbuster- Darsteller werden? Ein Banker in der Krise der nächste Bruce Willis sein? Steckt in einer gläubigen Lehrerin die Nachfolgerin von Angelina Jolie? Und steht der Name eines unbekannten Fitnesstrainers schon bald neben dem von Wesley Snipes auf dem „Walk of Fame“? Ist es möglich, aus dem Nichts zum Star aufzusteigen? Berühmt, bewundert und von Paparazzi belagert. Und wenn ja, dann wie?
„Ich bin zum Star geboren.“
„Ich bin eine Bombe und zu Größerem geboren“, sagt Jessica, die zierliche Kleine mit dem üppigen Vorbau. Sie, ein großer Star? Klar, warum nicht. Sie hätte das Zeug dazu. „Definitiv“, sagten sie ihr. Damals beim „Star Contest“ in der Shopping Mall. Es muss saukalt gewesen sein, als sich diese Jessica entschied, in die Hitze zu ziehen. Vor zwei Jahren war das, dort oben in Alaska. In irgendeinem Einkaufszentrum, wo sie versprochen hatten, aus Kunden große Schauspieler zu machen. Sie gewann die Wahl, packte die Koffer und ihre Tochter – und flog schon bald in den Süden.
Dies ist eine Geschichte über Träume. Wie könnte es auch anders sein, wenn die Traumfabrik ihr Schauplatz ist. Fünf Menschen, die nach Hollywood kamen, um sie wahr werden zu lassen, sind die Hauptdarsteller. Sie wurden in eine Stadt gespült, die unsere Vorstellung von Amerika zutiefst prägt.
Denn was wissen wir schon von diesem großen Land, das in zwei Wochen einen neuen Präsidenten wählt?
Hollywood im „Porno-Valley“.
Da sind die gelben Schulbusse. Die Sheriffs. Die billigen Motels und die Highways. Klischees und Wirklichkeit zugleich. Tausende Male gesehen in all den Filmen, die uns ein Bild von diesem Land vorgaukeln, ohne dass wir jemals dort gewesen wären. Amerika, das ist immer noch Hollywood.
Auch wenn es den Studios schlecht gehen mag. Filme nicht mehr zu Blockbustern taugen. Kinos dem „Home Entertainment“ zum Opfer fallen. Egal. Vieles, was wir von Amerika zu wissen glauben, hat seinen Ursprung an diesem einen Ort zwischen Sunset Boulevard und Studio City.
Jessicas „Hollywood“ liegt derweil noch weit draußen, im San Fernando Valley, wo nichts nach Glanz und Glamour aussieht. Fabrikhallen, Bürogebäude, eine achtspurige Autobahn und die Produktionsstätten der US-Pornoindustrie liegen dort. Aber eben auch ein Ort, an dem alles beginnen kann. „Schon Brad Pitt fing bei uns an. Theoretisch kann es jeder schaffen“, sagt Jennifer Bender, die Vizechefin von Central Casting. Was sie und ihre 60 Mitarbeiter hier draußen suchen, ist nicht der wortgewandte, Grimassen schneidende, Stunt-erprobte Schönling. Ganz im Gegenteil. Wer hierherkommt, wird später am Set nicht einmal den Mund aufmachen.
Sogenannte „Extras“ stellen sich zu Hunderten Tag für Tag an. Leute, die darauf hoffen, bei Serien und Filmen stumm durchs Bild zu marschieren – als Cop, als Kellnerin, als Zeitgenosse wie du und ich. Acht Dollar in der Stunde gibt’s dafür – das ist Mindestlohn. Ein Anfang und ein mögliches Ende zugleich. „Und seit der Krise kommen doppelt so viele zu uns“, sagt Jennifer Bender.
Po-OP und Bizeps-Implantat.
Jessica ist auch wieder da. Lässt neue Fotos von sich machen für ihre Kartei. Über 60.000 Menschen hat Central Casting in seiner Datenbank – 60.000-mal Hoffnung, Höhenflug und Absturzangst in einem. Jessica ist Nummer 34.725. An der Wand hängen Filmplakate – Blockbuster, Serienerfolge. „Dr. House“, „Desperate Housewives“, all das, was auch bei uns läuft und hier gecastet wurde.
Und darunter sitzen sie nun und dürfen Fragen stellen. „Soll ich beim Alter schummeln?“ „Mir den Busen vergrößern lassen?“ „Besser einen Bart tragen?“ „Hilft es, einen Uni-Abschluss zu haben?“ Und irgendwann, gegen Ende, stellt einer die wichtigste, die drängendste aller Fragen: „Warum, verdammt noch mal, ruft mich keiner an?“
Hollywood – das ist das Paradies der Paranoia und der Psychosen. Über den Straßen hängen neben den Filmplakaten gleich auch die Fotos der plastischen Chirurgen samt Telefonnummern zur Terminvereinbarung. „Wer jetzt immer noch gegen Botox ist, hat nichts verstanden“, empört sich die Kolumnistin des „L. A. Magazine“, welches in Schaubildern zeigt, wie der „optimierte Mensch“ künftig auszusehen hat. Denn Fettabsaugung und Busen-OP mögen gestern noch gereicht haben, nun lässt sich Miss USA längst den Hintern vergrößern, und Arnies Nachfolger sparen für Bizeps- und Trizeps- Implantate.
„Mentale Stärke kannst du dir hingegen nicht kaufen, und an der mangelt es den meisten“, sagt nun Robert, als er aus seinem Auto steigt. Der Glatzkopf hat sich durch all den Verkehr zu einem Casting gequält. Steht in einem stickigen Korridor, in dem das Neonlicht flackert. Es ist die nächste Stufe, die er erreichen will. Eine echte Rolle – mit Text! Kein Dasein als beliebig austauschbarer Hintergrunddarsteller.
Er, der Banker, der einst 100.000 Dollar im Jahr verdiente, war ausgebrannt. „Du kannst nicht dein Leben lang 16 Stunden am Tag schuften. Etwas tun, das dir keinen Spaß macht.“ Also hockt er jetzt lieber neben all den aufgescheucht herumlaufenden Möchtegern- Stars und wirkt dabei am ruhigsten von allen. Seit Juni ist er im „Business“, spielte den Cop, den Latino, den Security.
100 $ für den Hauptdarsteller.
Er wird aufgerufen, geht in eine kleine Kammer, in der ein Sessel und davor eine Kamera stehen. Gegenüber sitzt der Filmemacher, ein bärtiger Kerl, der 40.000 Dollar zusammengekratzt hat, um ein Roadmovie zu drehen. Nichts Großes, wohl nichts, was jemals die Cineplexx- Ketten erreichen wird. Aber mehr als ein Anfang, auch wenn selbst hier der Hauptdarsteller nur 100 Dollar pro Drehtag erhält. Robert gibt sich selbstsicher, setzt sein „Bruce-Willis-Grinsen“ auf und geht mit einem guten Gefühl raus.
„Leute sind bereit, durch die Hölle zu marschieren, um es zu schaffen“, sagt er später, als er erfährt, dass der Filmemacher mit 1.000 Leuten rechnet, die für die Rolle vorsprechen, und er noch nicht einmal bei der Hälfte angelangt ist.
Klar, kriegt er sie, könnte es sein Ding sein. „Du bist am Set, triffst einflussreiche Leute, plauderst, stellst Weichen.“ Und was, wenn nicht? „Weitermachen, nicht aufgeben, kellnern gehen, Klinken putzen, sich nichts vorwerfen können.“
Es ist die Faszination, die sie alle hierher gebracht hat. Eine Anziehungskraft so groß, so magnetisch, so gleißend wie die Sonne über dieser energiegeladenen Stadt, die kein wahres Zentrum und kein Ende kennt. In der vieles Illusion bleibt, auch wenn es wahrhaftig wirkt.
„Da war dieser Typ“, erzählt Amber, die Schöne mit dem langen, brünetten Haar, „der meinte, er sei Produzent, und steckte mir seine Karte zu. Ich wählte die Nummer, er hob nicht ab, rief nie zurück. Bis sich herausstellte, dass er völlig abgebrannt ist. Nur eine Handywertkarte hat, mit der er selbst nicht mal Anrufe tätigen kann.“ Aber was treibt sie in solch ein Business voller Selbstdarsteller? Amber ist die Einzige, die in Los Angeles aufgewachsen ist. So nah und doch so fern von all den Träumen. „Meine Mama war alleinerziehend. Wenig daheim, immer am Arbeiten. Ich bin quasi vor dem Fernseher groß geworden. Vielleicht ist das der Grund.“
Amber, die Schöne.
Dabei tingelt Amber nicht, wie Jessica es tut, von einem Casting zum nächsten, holt sich da wie dort Abfuhren und hofft dennoch weiter. Die Zeit fürs Vorsprechen muss sich Amber abzweigen von ihrem Job an der Schule. Dort betreut sie geistig behinderte Kinder und auch solche, die früh mit Drogen und den Cops in Kontakt gerieten.
„Das ist schon eine Berufung für mich“, sagt sie und blickt dann verstohlen zur Seite, „aber als Schauspielerin gemocht, ja mitunter geliebt zu werden wäre eine größere.“
Vielleicht ist es diese klitzekleine Möglichkeit, es doch zu schaffen, die die Menschen in diese Stadt der Engel und der Dämonen lockt. Einen einst dicken Schwarzen, wie Charles es war, dazu bringt, 30 Kilo abzunehmen und nun in Santa Monica am Strand seinen Körper zu stählen. „Ich bin in Kansas aufgewachsen, pummelig, betrübt, zum Verlierer bestimmt. Aber ich habe mich aufgerafft, mich von niemandem abhalten lassen. Ich wollte mehr. Und darum bin ich hier. Los Angeles hat mich schon jetzt zu einem glücklicheren Menschen gemacht.“
Wesley Snipes für Arme?
Er könnte der junge Wesley Snipes sein. Einer, der sich durchbeißt, nicht lockerlässt. Charles spielt Theater, trainiert Dicke, studiert Rollen ein und lässt einen Gedanken erst gar nicht zu – „was ist, wenn ich es doch nicht nach oben schaffe?“.
„Dann mache ich das, was ich gelernt habe“, lautet Williams Antwort auf diese Frage. Er ist Brite, 52, ausgebildeter Butler und als solcher in die Filmindustrie gerutscht. Damals, in den 80er-Jahren, als er es auf der regnerischen Insel nicht mehr aushielt und in Hollywood Hoffnung sah.
Ein Butler kommt in die Jahre.
Er spielte immer sich selbst – den Butler, egal ob in „Dracula“ oder in der TV-Show aus dem Playboy-Haus von Hugh Hefner. In letzter Zeit ist es ruhig um ihn geworden. Kaum noch Angebote, kaum noch Anrufe. Also arbeitet er wieder auf Caterings, zieht seine Fliege und den Frack zurecht und sagt: „Kein Traum währt ewig. Irgendwann wird man munter und freut sich, noch am Leben zu sein.
Erschienen in NEWS 43/2012