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Die Waldmenschen von Budapest

Das Lager mitten im Wald (Foto: Marcus Elöd Deák)

Das Lager mitten im Wald (Foto: Marcus Elöd Deák)

KÄLTESCHOCK. 200 Kilometer hinter Wien leben Menschen aus Not im Wald. Bei Schnee, Eis und -12 Grad. Allein im Vorjahr sind 400 von ihnen erfroren. NEWS erzählt von ihrem Kampf gegen den Frost.

Als die Kälte herangekrochen kam, lag László zusammengekauert in einer Decke mitten im Wald. Es hat Minusgrade, stürmt und schneit. Der Verkehr vor Budapest kommt zum Erliegen. Wir stecken auf der Autobahn fest. Fürchten, im warmen Wagen gefangen zu sein und ahnen bald, dass der wahre Feind dort draußen ist.

Wir blicken besorgt auf die Benzinnadel. Machen uns Gedanken, wie schnell es im Auto wohl kalt würde, wenn der Tank erst einmal leer wäre. László kennen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Haben keine Ahnung, dass er gerade tatsächlich um sein Leben kämpft.

Der nächste Tag. Wir sind in Budapest angekommen und sitzen an Júlias Seite in einem Kleinbus. Die Kettenbrücke, die Fischerbastei, der Prunk von Ungarns Hauptstadt liegt hinter uns. Nun sind es Plattenbausiedlungen, die an unserem Auge vorbeigleiten. Vorstädte, so grau wie der Himmel, so endlos wie der Nebel es zulässt. Júlia arbeitet für die Stiftung „Menhely“, was Obdach auf Ungarisch heißt und wird zur Begleiterin in eine verborgene Welt.

Als fünf in einer Nacht starben.

„Fünf Tote hatten wir allein letzte Nacht“, sagt sie nach einem Funkspruch mit der Zentrale und korrigiert sich sogleich: „Fünf, von denen wir wissen. Deren Leichen wir schon gefunden haben.“ Im vergangenen Winter sollen bis zu 400 Obdachlose in Budapest gestorben sein. Hinweggerafft von der Kälte. Nicht wieder erwacht nach einer eisigen Nacht.

Der Wagen verlässt die Straße, biegt ab in einen vom Schnee bedeckten Weg, der tiefer in den Wald führt. Bald stapfen wir durch das Weiß, sehen Spuren und auch Hütten. Eine Rauchschwade steigt auf, Stimmen werden laut. „Verschwindet“, ertönt es auf Ungarisch, „lasst uns in Ruhe.“ Drei Männer kommen auf uns zu. Gestikulieren, geben uns zu verstehen, dass wir hier nicht erwünscht sind. Zu oft, so werden sie später erzählen, hätten sie schon schlechte Erfahrungen mit Journalisten gemacht.

„Da waren Leute vom Fernsehen, die filmten alles, verrieten, wo sich unser Lager befindet und bald stand wer von der Stadt da und drohte, uns zu vertreiben.“ Júlia beruhigt, erklärt, dass wir aus Österreich kommen. „Na dann folgt mir“, sagt plötzlich einer, der sich als László vorstellt, „wir werden euch zeigen, wie wir hier leben.“

Ein Pfad führt zu Behausungen, zusammengezimmert aus Brettern und Planen. In der Mitte steht eine Waschmaschine, ausgebrannt und verrostet. Dort, wo einmal die Trommel war, quillt dichter Rauch heraus. „Unser Ofen“, sagt László und zeigt den Kochtopf. Der Deckel der Waschmaschine ist zur Herdplatte umfunktioniert.

Nun kommen die anderen zwei Männer und eine Frau hinzu. Alle sind sie in ihren Vierzigern: die Straße, die Kälte, die Qual – tief eingegerbt in ihren Gesichtern. Sie beginnen zu erzählen – von Hoffnungen, die sie hatten. Von einer Kindheit, die sie nicht auf die Butterseite fallen ließ. Von Budapest, der Hauptstadt, die ihnen Arbeit geben sollte. Von Enttäuschungen, die folgten, Ehen, die scheiterten, Kindern, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen haben.

Es ist kein Schimpfen, das die Vier da von sich geben. Kein Wehklagen über die Ungerechtigkeit des Lebens. Auch kein Neid oder gar Hass, auf die, die alles haben, der laut würde. Nichts dergleichen. Bloß die kalte Bestandsaufnahme eines Lebens, das an ein paar Gabelungen, die falsche Richtung genommen hat. Sie bis hierher geführt hat. Ein Zurück gibt es für sie längst nicht mehr. Nur noch ausharren, überleben, irgendwie. „Die letzte Nacht, der Sturm, der Schnee, das war sehr hart“, gesteht László, „aber es ist unser siebter Winter hier. Wer weiß, wie viele uns noch bleiben.“

140 Aludosen für einen Euro.

Die Männer zeigen die Vorräte, die sie haben. Essensreste aus den Mistkübeln der Stadt. Und dann sind da überall Bierdosen und leere Flaschen. Ganze Säcke voll davon. Die Waldmenschen als Schwerstalkoholiker? „Schön war’s“, meint Ernö, der Älteste und lacht bitter, „die sammeln wir, um ein wenig Geld zu kriegen: für eine Dose gibt es zwei Forint, für eine Flasche fünf.“ Fünf Forint – das sind so wenig, dass nicht einmal mehr eine derartige Münze im Umlauf ist. Um einen Euro zu verdienen, müssen die Männer 56 Glasflaschen oder 140 Aludosen aus dem Müll klauben.

Und trotzdem harren sie unter den Baumwipfeln aus? Während manch anderer schon aus Verzweiflung an deren Ästen am Seil baumeln würde? Es ist eine harte Frage, László versteht sie trotzdem und führt zu einer der Baracken. Dort ist eine gelbe Plane angebracht. Darauf steht eine Passage aus der Bibel. Das fünfte Buch Mose, Kapitel 30, Vers 19. „Wähle das Leben“, heißt es auf Ungarisch, und darunter: „Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du und deine Nachfahren das Leben erwählst und am Leben bleibst!“ Ja, es ist der Glaube an Gott, der sie hier in der Kälte, der Einsamkeit und der Abgeschiedenheit überleben lässt.

Weg ohne Wiederkehr.

Später, als wir wieder bei Júlia im Bus sitzen, berichtet sie, wie die Stiftung zu helfen versucht. Zeigt die Decken, die Medikamente. Erzählt von der Notrufhotline und den bescheidenen Ressourcen. Die staatliche Unterstützung für den Verein wird im finanzklammen Ungarn seit Jahren gekürzt. Spenden sorgen für das Nötigste, helfen auch den in die Jahre gekommenen Bus zu finanzieren, mit dem schon manch Obdachloser vor dem Erfrieren in eine Notunterkunft gerettet wurde. „Aber zwingen, dorthin mitzukommen, können wir keinen“, sagt Júlia. Ihr Chef, Zoltán Aknai, wird später die Zahl der Obdachlosen in der Stadt auf etwa 8.000 Menschen schätzen und ihnen die 700 verfügbaren Schlafplätze gegenüberstellen. Hinzu kommt eine Erkenntnis, die klar wird, je länger wir durch die Wälder der Vororte fahren und noch mehr jener Menschen finden, die dort Zuflucht gefunden haben.

Csaba in seiner Laube (Foto: Marcus Elöd Deák)

Csaba in seiner Laube (Foto: Marcus Elöd Deák)

„Die Straße macht aus dir einen anderen Menschen. Jeder Tag, jedes Monat, jedes weitere Jahr bringt dich weiter weg von dem Leben, das du einst hattest“, sagt Csaba. Er sitzt allein in einer Laube. Draußen bellt sein Hund in den Wind, drinnen hat es sechs Grad plus. An der Wand hängt das Früher. Csaba als kleiner Bub, umringt von Geschwistern, der Papa stolz im Anzug, die Mama in feiner Bluse und schönem Rock. Darunter kauert die Gegenwart. Ein Mann, 43, der nicht mehr zu erklären weiß, wie all das begann, bevor es hier endete. Ja, Ehe, Kinder, Scheidung – Stationen, eines aus der Bahn geratenen Lebens. Nein, kein Alkohol, keine Drogen, nichts davon. Aber auch keine Arbeit, keine Aussicht. Nur ein Abgleiten bis hierher, in die einsame Hütte im Wald.

Zurück im Hotel. Zappen durch die Kanäle. Ungarische Wortfetzen. Zwei Kurven, die bedrohlich nach oben weisen. Die eine rot, die andere blau. Beginnend mit dem Jahr 2008, endend in der Gegenwart. Die eine steht für die Arbeitslosigkeit, die andere für den Preisanstieg. Was beide im Ergebnis bewirkt haben, liegt nur wenige Stunden hinter uns. Draußen, in den Wäldern. Drinnen, im warmen Zimmer, ein weiterer Druck auf die Fernbedienung. RTL, Dschungelcamp, eine Wiederholung. Wie bizarr! Ein Grüppchen Pseudo-Prominenter, das für gutes Geld zur Zerstreuung der Zuschauer in einer Attrappe australischer Wildnis ausharrt. Belustigung für Wohlstandsverwahrloste. Ablenkung von einer Wirklichkeit, die einen im schlimmsten Fall nur ein paar Schicksalsschläge vom wahren Dschungelcamp in den Städten und Wäldern im Herzen Europas trennt.

Erschienen in NEWS 08/2013

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