
Frauen demonstrieren auf dem Taksim-Platz in Istanbul gegen Premier Erdogan (Foto: Ricardo Herrgott)
ATATÜRKS ENKELINNEN. Sie trotzen Tränengas und Polizeigewalt. Fordern ein Ende der Islamisierung. Und stehen an vorderster Front des Massenprotests gegen Premier Erdogan. Wir trafen die Frauen vom Taksim-Platz.
Stell Dir vor, Du wachst eines Morgens auf und findest Dich in einem Dir fremd gewordenen Land wieder“, sagt Hazal, die Schöne mit dem widerborstigen lockigen Haar. „Was würdest Du tun?“
Sie schweigt kurz, gibt Zeit, über eine Antwort nachzudenken und sagt dann: „Wir in der Türkei haben nicht bloß eine Nacht, sondern ganze elf Jahre verschlafen. Und als wir endlich munter wurden, war unser Land schon fast eine islamische Diktatur.“ Harte Worte von einer Zartbesaiteten.
Hazal ist 30, Modedesignerin, Model und Kostümbildnerin. Das Gegenteil einer Krawallmacherin also und doch an vorderster Front der Proteste, die seit zwei Wochen in der Türkei toben. Sie sitzt im fünften Stock, inmitten des kreativen Chaos, das ihre Wohnung ist. Unter ihr liegt Istanbul, ihre Heimatstadt. Vor ihr eine ungewisse Zukunft. Und hinter ihr Nächte, die ihr Leben bedrohten und für immer veränderten.
Mit Milch gegen Tränengas.
Eine weitere solche Nacht steht bevor. Auf dem kleinen Holztisch, zwischen dem Laptop, den Büchern, Modemagazinen und Abschminkpads, hat Hazal aufgereiht, was sie dafür braucht: die Taucherbrille als Schutz gegen das Gas, eine Plastikflasche mit Milch und eine Packung „Rennie“, die Kautabletten gegen Sodbrennen. „Vermischt man die Milch mit den Tabletten, ergibt das eine Lösung, die die Wirkung des Tränengases etwas lindert“, erklärt Hazal ganz routiniert, so als sei sie eine Berufsdemonstrantin. Dabei war sie vor diesen Juni-Tagen noch nie in ihrem Leben bei einem Protest.
„Aber genug ist genug“, sagt sie, stopft alles in ihre Tasche und geht zur Tür. „Auch wenn ich morgen sterbe, mich die Polizisten niederknüppeln, sie mich mit ihren Geschossen ins Jenseits jagen. Es ist die Zeit gekommen, aufzustehen.“
Hazal ist aufgestanden – und mit ihr hunderttausende Türkinnen im ganzen Land. Von der Ärztin bis zur Anwältin, von der Studentin bis zur Managerin. Es sind moderne, aufgeschlossene Türkinnen, die ihre Art zu leben bedroht sehen und die nun Seite an Seite mit den Männern protestieren. Unten, in Hazals Viertel, ist dieses Land so sehr Europa wie an kaum einem anderen Ort des 76-Millionen-Einwohner-Staates. Volle Bars, Boutiquen, Cafés, ein lockeres leben und leben lassen. Zwanzig Minuten geht es über steile Gassen bis hoch zum Taksim, dem riesengroßen Platz, auf dem alles begann.
Dort liegt Tränengas in der Luft. Beißend, bitter, brutal. Die von den Demonstranten errichteten Blockaden sind ver- schwunden. Sie sollten verhindern, dass die Polizei, das Gas und mit ihm die Angst zurückkehren. Vergeblich. Es ist früher Abend. Der Platz ist erneut voll, es drängen sich Menschenmassen. Vor ausgebrannten Autobussen posieren junge Männer, lassen sich fotografieren, machen das Victory-Zeichen. So als sei die Schlacht, die hier ausgetragen wurde, schon Monate vorüber, der Krieg längst gewonnen, die Verhältnisse geklärt.
Die Türkei – Eine Diktatur?
Doch das Gegenteil ist wahr. „Tayyip, Rücktritt!“, schallt es aus Lautsprechern über den Platz und Abertausende wiederholen die Aufforderung an Premier Recep Tayyip Erdogan. Er, der Polterer vom Bosporus, der islamisch-konservative Machthaber, der die Türkei seit elf Jahren regiert: ein Unantastbarer wird hier von den Massen angezählt. Und das, obwohl er dem Land Stabilität brachte, einen Boom, von dem Europa nur träumen kann, Wachstumsraten, steigende Löhne, eine Erfolgsgeschichte. Und plötzlich erstmals Widerstand. Menschen wie Hazal, die von Diktatur sprechen. Nicht nur hier in Istanbul, sondern in allen größeren Städten des Landes. Und warum? Wegen eines winzigen Parks? Ein paar hundert Bäu- men? Der letzten Grünfläche im zubetonierten Zentrum einer Millionenstadt, die einem weiteren Einkaufszentrum samt Moschee weichen soll?
Der Taksimplatz mag mittlerweile geräumt sein, der halbe Gezi-Park nach einem Stürmungsversuch der Polizei am vergangenen Dienstag verwüstet, aber der Widerstand bleibt. Immer noch stehen Zelte. Darin viele junge Leute, aber auch ganze Familien, die seit Tagen campieren, untertags zur Arbeit gehen und nachts hierher zurückkehren. Menschen, die mitten im Leben stehen, viel zu verlieren haben und wissen, dass die Proteste schon fünf Tote und über 5.000 Verletzte gefordert haben. Sie bleiben trotzdem.
Vorn gibt es eine Ambulanzstation mit Freiwilligen, hinten eine Kantine, in der gratis Essen ausgegeben wird. Wer im Gedränge einen anderen anrempelt, hört sofort ein „Pardon“. Es ist das Abbild einer besseren Welt im Kleinen, das hier an den Tag tritt. „Marodierende Meute“, „Plünderer“, „vom Ausland aufgestachelte Extremisten“, hat Erdogan Menschen wie Hazal genannt. Dann hetzte er am vergangenen Dienstag seine Spezialpolizei auf sie los. Ließ – wie viele im Park vermuten – Chaos stiftende Provokateure in die Protestbewegung einschleusen, um mit noch größerer Härte gegen sie vorgehen zu können.
Kein Küssen, kein Raki.
„Ja, für ihn sind wir Plünderer“, sagt Yildiz. In ihrem anderen Leben ist die 32-Jährige Managerin bei einem Pharmakon- zern. Hier im Park war sie sich hingegen nicht zu schade, mit Säcken Runden zu drehen und Müll einzusammeln. „Erdogan behandelt uns wie Kinder, rät Frauen, mindestens drei Babys zur Welt zu bringen, verbietet Abtreibung und Kaiserschnitt, verhängt Kussverbote in U-Bahnen, sagt uns, ob und wann wir Alkohol trinken dürfen und steckt Kritiker ins Gefängnis.“ Yildiz wirkt traurig und voller Zorn zugleich: „Erdogan tritt Atatürks Erbe mit Füßen.“
Da fällt er erstmals, der Name, den wir bald überall zu hören bekommen – Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei. Ein Säulenheiliger, der im Jahr 1923 die Religion in einem mehrheitlich muslimischen Staat zur Privatsache erklärte, Kopftücher an Schulen und Unis, ja in allen staatlichen Institutionen verbot, die Scharia abschaffte, ein modernes Scheidungsrecht einführte und Frauen das Wahlrecht gab. Und jetzt? Nach elf Jahren Herrschaft von Erdogans islamisch-konservativer Partei?
Das Land mag boomen, das Militär – einst Schutzpatron von Atatürks Erbe – kaltgestellt sein und Erdogan selbst bei den letz- ten Wahlen 2011 fast 50 Prozent der Stimmen geholt haben. Aber wer die Tausenden Frauen sieht, die etwa am vergangenen Wochenende am Taksim- Platz für ihre Rechte demonstrierten, ahnt, dass sich Erdogan die andere Hälfte der Bevölkerung zu erbitterten Feinden gemacht hat. Cidem ist eine von ihnen und steht an der Spitze des Protests. „Die Türkei ist eine andere ge- worden. Schaltest Du den Fernseher ein, tragen plötzlich immer mehr Moderatorinnen Kopftuch. Gehst Du mit Freunden aus, suchst Du immer länger nach einem Lokal, wo noch Wein ausgeschenkt werden darf. Die Alkoholsteuer ist seit Erdogans Amtsantritt um 700 Prozent gestiegen. Spazierst Du durch die Stadt, begegnen Dir auf einmal Frauen in der Burka und Du fragst Dich, sind wir noch in der Türkei oder schon in Saudi-Arabien?“
Im Ausnahmezustand.
Am Ende steht die vollkommene Eskalation. Frauen und Männer harren mit Gasmasken im Gezi-Park aus. Der Taksimplatz davor brennt längst. Die Polizei fährt mit gepanzerten Wagen auf, feuert wahllos Gummigeschosse in die Menge.
Erdogan hat hoch gepokert, alle Wege der Deeskalation ausgeschlagen, seine Wähler zu Hass aufgestachelt, das halbe Land gegen sich aufgebracht und einen Flächenbrand geerntet.
Erschienen in NEWS 25/2013