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Schwester Courage

Bildschirmfoto 2014-03-13 um 22.08.01Ihr Bild ging um die Welt. In NEWS erzählt Olesja, 21, erstmals ihre Geschichte. Das Projektil eines Heckenschützen durchbohrte ihren Hals. „Ich sterbe“, twitterte sie vom Maidan. Doch sie überlebte – und mit ihr die Hoffnung.

Es ist ein Foto, das um die Welt geht. Eine Krankenschwester, soeben von einer Kugel getroffen. Eine unschuldige, junge Frau, eingehüllt in eine dicke, weiße Jacke, mit einem großen roten Kreuz auf der Brust. Ihre linke Hand hält sie schützend vor den Hals. Die Hand färbt sich rot. So rot, wie nur Blut sein kann. In der anderen Hand hält das Mädchen sein Handy. “Ja umiraju”, tippt es am vergangenen Donnerstag, den 20. Februar, um 10:44 Uhr noch ein und postet die Nachricht auf Facebook. “Ja umiraju”, das heißt “ich sterbe” auf Ukrainisch.

Wer noch eines letzten Beweises bedurfte, dass in der Ukraine ein diktatorisches Regime an der Macht war, bekam ihn an diesem Tag geliefert. Ein Präsident lässt Scharfschützen auf den Dächern seiner Hauptstadt postieren. Erteilt ihnen den Befehl, zu schießen, den Auftrag, zu töten. Um sich, seine Macht, seinen Luxus zu retten. Und das mitten in Europa, 1.000 Kilometer Luftlinie östlich von Wien. Das ist Krieg, das ist Sarajevo 1994, das ist Kiew 2014.
Die Krankenschwester, die auf dem zentralen, seit drei Monaten besetzten Maidan-Platz war, um anderen zu helfen, ist selbst zum Opfer geworden. Ihre letzte Nachricht flutet das Internet. Eine Nachricht, über 11.000 mal geliked und 1.600 mal geshared – doch den Tod kann man weder mögen noch teilen. Und nichts kann Olesja Schukowska, so heißt die junge Frau, das Leben zurückbringen.

Wir sind in Kiew, Klinik Nummer 17, im Stadtteil Petschersk. Männer in Camouflage-Uniformen sind vor dem Eingang postiert. Es sind Freiwillige, junge Burschen, die, so martialisch sie auch wirken, da sind, um die Patienten zu schützen. Denn stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, in dem die eigene Regierung verletzte Demonstranten aus Spitälern entführen lässt, um sie einzusperren, zu foltern oder gar zu töten. Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, in dem die eigene Regierung Schlägerbanden anheuert, damit sie auf der Straße Passanten niederprügeln, sodass ein Klima allgemeiner Angst entsteht. Und stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, das Schwerverbrecher aus der Haft entlässt, damit die bei diesem Wahnsinn mitmachen. Dieses Land war die Ukraine des Wiktor Janukowitsch noch bis vor wenigen Tagen.

Und deshalb die Männer in Camouflage-Uniform, die uns den Weg in eines der niedrigen Gebäude weisen.  Hier soll sie liegen, Olesja, die Krankenschwester, eine der Heldinnen von Kiew. Während im Internet Nachrufe auf sie im Umlauf sind, treffen wir Olesjas Arzt Oles Garastschuk: “Wir haben hier im Minutentakt operiert, Hunderte Verletzte wurden eingeliefert, manche starben noch auf der Pritsche, auf dem Weg in den OP”, sagt der Neurochirurg: “Dass Olesja lebt, ist ein einziges Wunder. Es war ein Durchschuss – eine Eintrittsstelle hier”, er deutet auf die linke Seite seines Halses, “eine Austrittsstelle hier. Wenige Millimeter weiter rechts oder links und es hätte die Hauptschlagader erwischt.”
Wir sind die ersten Journalisten, die er zu ihr führt. Denen er die Tür zu einem kargen Raum öffnet, in dem vier Betten stehen. Drei sind belegt, eines von Olesja. Ein junges Mädchen mit wuscheligem Haar, um den Hals einen dicken Verband gewickelt, aus dem ein Schlauch hinausführt. Olesja kann den Kopf noch kaum bewegen, doch sie lächelt, als sie uns sieht. “Habt ihr schon gehört, Janukowitsch ist weg”, sagt sie bald, obwohl ihr das Sprechen noch schwer fällt. Doch eine junge Frau, die gerade wiedergeboren wurde, lässt sich vom Verbot ihres Arztes, sich zu sehr anzustrengen, kaum abhalten. Sie erzählt, wie aus ihr, dem Mädchen aus der westukrainischen Provinz, eine Frau wurde, die ihre Angst überwand und der Diktatur trotzte.

Es war im späten November, als ihr, dem Mädchen, das sich für Politik nie besonders interessiert hatte, die schrecklichen Bilder unterkamen. Auf Facebook oder VKontakte, dessen russischem Pendant, überall die prügelnden Polizisten, die ungehemmt auf Studenten eindreschen. Mitten auf dem Maidan, dem Hauptplatz ihrer Hauptstadt. Ungehemmt, ungehindert, unverfroren fand Olesya. Sie beschloss, nach Kiew zu fahren, 250 Kilometer von ihrer Heimatstadt Kremenez entfernt. Allein. Mit dem Bus. Warum? “Weil ich helfen wollte. Weil ich etwas tun wollte, damit sich in unserem Land endlich etwas ändert. Wir in Würde leben können.” Neben dem Krankenbett stehen ihre Eltern, ganz einfache Leute, der Vater ein Arbeiter, die Mutter eine Aushilfe. Beide sind sie zum ersten Mal in ihrem Leben in Kiew und beide blicken sie fast beschämt zu Boden. “Sie wussten anfangs gar nicht, dass ich hier war”, sagt Olesja. Die gelernte Krankenschwester macht sich nützlich, meldet sich als medizinische Helferin freiwillig. Es wird Dezember und von Tag zu Tag kälter. Tausende und Abertausende halten mittlerweile den Maidan besetzt, fordern den Rücktritt von Präsident Janukowitsch und schaudern sich davor, zu welch Diktatur er ihr Land gemacht hat. Sie errichten Barrikaden aus Reifen und allem, was sich finden lässt, rüsten sich mit Holzschildern und wirken bald wie Kämpfer aus dem Mittelalter. Sie träumen von Europa, der EU, ohne genau zu wissen, was das ist. “Vielleicht ein System, in dem es uns besser geht, in dem ich und die anderen jungen Leute nicht 200 Euro im Monat verdienen und kaum wissen, wie sie davon jemals mit einer Familie leben sollen”, sagt Olesja, die die Ukraine noch nie in ihrem Leben verlassen hat.

Doch bald wird dieser Traum im ersten Blut ertränkt. Noch vor Weihnachten kommt es zur Gewalt. Barrikadenkämpfe, Sondereinheiten, die stürmen und eine Blendgranate, die nur ein paar Meter von Olesja entfernt einschlägt. Aber dann heimgehen, alles absagen, eine weitere Generation warten? Kam nicht in Frage. Olesja rüstet sich. Bilder, die sie in soziale Netzwerke stellt, zeigen sie mit einem Schutzhelm auf dem Kopf und dem Roten Kreuz auf der Brust. Aus ihr, die noch im Sommer Bilder von Konzerten ihrer geliebten Rockbands postete und mit der Frisur herumexperimentierte, ist eine Kämpferin für das Gute geworden.

Die Zeit vergeht, die Zahl der Verletzen, die sie versorgt, steigt und die Temperatur fällt. Jänner, -25 Grad, Barrikaden, die in der Nacht bewacht werden müssen, um die Sonderpolizei davon abzuhalten, den Maidan mit all seinen Zelten und den Tausenden darin Schlafenden zu stürmen. Olesja feiert dort ihren 21. Geburtstag, ist umringt von neugewonnenen Freunden, die alle ein Ziel teilen: Janukowitsch muss weg und mit ihm das erstarrte, korrupte System, das nach der Orangen Revolution von 2004 nicht verschwunden war und die Ukraine auch wirtschaftlich an den Rand des Bankrotts geführt hat.

Doch Olesja wird krank, die Kälte setzt ihr zu, Angina, Fieber, Krankenhaus und das Weinen ihrer Mutter am Telefon. “Sie ist unser einziges Kind. Wir haben doch nur sie. Ich habe Olesja angefleht, endlich nach Hause zu kommen”, sagt sie. Und Olesja kommt. Sitzt daheim und verfolgt weiter, was in Kiew geschieht. So lange, bis sie es nicht mehr aushält und trotz der Tränen ihrer Mutter erneut in den Bus steigt. Er bringt sie zurück nach Kiew und direkt ins Inferno.
Scharfschützen auf den Dächern, hochgerüstete Sondereinheiten, an die Kalaschnikows ausgegeben werden und ein Präsident, der bereit scheint, bis zum Äußersten zu gehen. Erst jetzt, wo die Revolutionäre durch seine Villen spazieren können und sich halb Kiew am Wochenende in Richtung seines verlassenen Landsitzes staut, wird klar, wie korrupt dieser Herrscher und sein Clan wirklich waren. Toiletten aus Gold, Luxuslimousinen aus aller Welt, Hubschrauber, Jachten, Millionen Dollar an Bargeld und Anwesen, die selbst jene der kürzlich gestürzten arabischen Despoten in den Schatten stellen. 700 Euro gab Janukowitsch im Monat allein an Medizin für seine Goldfische aus, während die meisten Ukrainer nicht einmal 300 Euro verdienen. Man muss diese Bilder voll des Protzes und der Verachtung für das Volk gesehen haben, um dessen Hass auf ihn auch nur im Ansatz verstehen zu können. Und nur sie erklären auch, warum Janukowitsch, der seinen Clan zum reichsten unter den an Oligarchen-Familien nicht armen Ukraine machte, letztlich bereit war, zu töten.

Olesja weiß an jenem Donnerstag, dass der Tag der Entscheidung gekommen ist. Im Minutentakt werden Verletzte zu ihr in die Krankenstation gebracht. Im Stundentakt sterben Menschen in ihren Armen. Um halb elf läuft sie über den Maidan, will Nachschub an Medikamenten besorgen. “Ich habe weder etwas gesehen noch gehört, nur plötzlich einen Stich am Hals gespürt. Auf einmal war da Blut.” Ein Scharfschütze, ein Sniper, irgendwo auf einem Dach über dem Maidan verschanzt. Er hat sie getroffen. “Ich wusste gar nicht, was los war. Ich sah das Blut, habe mir den Hals zugehalten.” Männer stürmen herbei, Kämpfer von den Barrikaden, die sie stützen und zu einem Rettungswagen bringen. “Als ich darin lag, dachte ich, es geht zu Ende. Das habe ich auch geschrieben.”

Während Ärzte im Spital um Olesjas echtes Leben kämpfen, verhandelt Präsident Janukowitsch um sein politisches. Er trifft Klitschko, den Boxer, der den Politiker gibt, die Außenminister aus Deutschland, Frankreich und Polen, die ihn zur Räson bringen wollen und stimmt schließlich einer Vereinbarung zu. Schon am nächsten Tag wird er die Flucht ergriffen und ein geschundenes Land zurückgelassen haben. Ein Land, in dem an nur einem Tag 80 Menschen starben. Ein Land, das in der Stunde seines Sieges über die Diktatur Trauer trägt. Das nicht weiß, was kommt, fürchten muss, dass rechte Brigaden, die Teil der Revolution waren, an Einfluss gewinnen und es selbst nur Spielball eines Machtkampfes der EU mit Russland um Einfluss bleibt. Während sich der Diktator verschanzt hält, kehrt am Freitag dessen größte Rivalin zurück. Julia Timoschenko, die selbst die Orange Revolution verspielt hat, verurteilt und eingekerkert war, kommt direkt aus ihrer Zelle zum Maidan. Es ist ein großer Auftritt, sie, mit tränenerstickter Stimme, im Rollstuhl sitzend, die Menschen beschwörend. Timoschenko findet, im Unterschied zu Klitschko, die richtigen Worte, brilliert rhetorisch und wirkt doch bald so, als sei sie nie weg gewesen und in die Macht so verliebt wie der eben erst Vertriebene. Fragt man Olesja, wie es weitergehen soll, überlegt sie lange und sagt dann: “Wenn alles so bleibt, wie es war, hätte ich auch sterben können.”

Erschienen in NEWS 09/2014 (Anmerkung: Olesja konnte mittlerweile das Krankenhaus verlassen, ihr Zustand hat sich stabilisiert und die Ärzte sind zuversichtlich, dass keine Folgeschäden bleiben.)

 

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