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Das letzte Aufgebot

Die Kaserne 4515 der ukrainischen Streitkräfte auf der Krim (Foto: Heinz Stephan Tesarek)NERVENKRIEG AUF DER KRIM. Wie eine Gruppe ukrainischer Soldaten mit ihren Frauen und Kindern in einer von Russen belagerten Kasernen ausharrt. Eine Reportage zwischen Hoffnung und Untergang.

Dies ist eine Geschichte der Verzweiflung und des Mutes, der Tapferkeit und der Traurigkeit, der Enttäuschung und der Hoffnung zugleich – und am Ende ist es auch eine Geschichte von roher, verrückter Gewalt. Sie spielt an einem Ort von strategischer Wichtigkeit: der Kaserne 4515, einem der letzten Stützpunkte der ukrainischen Armee auf der Krim. Wer diese Luftwaffenbasis kontrolliert, beherrscht den Luftraum über einer Halbinsel, die bis vor zwei Wochen noch viele in Europa nicht einmal auf der Landkarte fanden. Nun entscheidet sich hier das weitere Schicksal des Kontinents, die Frage, ob wir geradezu in einen Krieg, in das Ende der uns bekannten Nachkriegsordnung taumeln. Denn die Krim, völkerrechtlich ein Teil der Ukraine, gehört in den Augen Wladimir Putins längst wieder zu Russland. Ein Anschluss, der am Sonntag mit einem eilig vorgezogenen Referendum auf der mehrheitlich von Russen besiedelten Halbinsel nur noch formalisiert werden soll.

Und so ist die Kaserne 4515, zehn Kilometer hinter Sewastopol, der Außenposten eines bevorstehenden Untergangs. Und die Reise dorthin eine in die Ausweglosigkeit und den Wahnsinn. Lubimowka heißt das letzte Dörfchen vor dem Stützpunkt. Kleine, geduckte Häuser. Eine staubige Straße voll tiefer Regenlachen. Hühner, die frei herumlaufen und Marillenbäume, die schon zu blühen begonnen haben. An der Kreuzung: eine alte, rostige MiG, ausrangiert und vor den bröckelnden Wohnblöcken auf ein Podest gehievt. Stolz der Sowjetunion, Abgesang auf die Ukraine.

Wir haben eine Frau mit ihrem Baby im Auto. Anna will zu Dima, ihrem Mann, dem Soldaten. Er harrt mit seinen Kameraden in der Kaserne aus, weiß nicht, was noch kommt. Im schlimmsten Fall der Krieg. Und an dessen Ende der Tod? Der Sohn ist elf Monate alt und schläft. Vor der Kaserne dann das erste Zusammentreffen seit einer Woche. Anna umarmt Dima, reicht ihm den Buben und streicht der 12 Jahre alten Tochter zärtlich durchs Haar. Sie alle sind Ukrainer, leben seit Jahren auf der Krim und sollen – ob sie wollen oder nicht – schon am Sonntag durch das Referendum zu Russen werden. Was dann aus Dima, seiner Familie und seinem Land werden soll? Der Soldat schüttelt den Kopf, schweigt.

Unbewaffnet in den Untergang.

Am gusseisernen Tor der Kaserne prangt das ukrainische Wappen, hängt die blau-gelbe Flagge, auf die die Soldaten ihren Eid abgelegt haben. Dima und seine Kameraden gelobten, diese Ukraine mit ihren Waffen zu verteidigen. Sie schworen einem Land die Treue, das es da draußen gar nicht mehr gibt. “Habt ihr all die russischen Fahnen auf dem Weg hierher gesehen?”, fragt Dima, “habt ihr die Leute reden gehört? Wie sie es gar nicht mehr erwarten können, dass das Referendum sie am Sonntag zu Russen werden lässt?”
“Die Armee ist nicht die Politik”, haben die Soldaten trotzig auf ein Plakat geschrieben und es ans Tor gehängt. “Sewastopoler Flieger für eine friedliche Lösung aller Probleme”, steht auf einem anderen. Das war vorige Woche, als die Russen kamen. Schwer bewaffnet, modernst ausgerüstet, ohne Hoheitsabzeichen an der Uniform, aber mit einer klaren Intention versehen.

Boris, der schon leicht ergraute Zugskommandant, erinnert sich: “Sie hatten das Areal bereits umstellt gehabt und stellten uns vor die Wahl: entweder aufgeben und verschwinden oder überlaufen und sich ihnen anschließen.” Was folgte, war ein Nervenkrieg, ein sich über Stunden erstreckendes Belagern und Belauern. Bis 200 ukrainische Soldaten all ihren Mut zusammennahmen und unbewaffnet auf die Russen zumarschierten. “Wir hielten die Fahne in der Hand, stimmten die ukrainische Hymne an und gingen einfach los”, schildert Boris eine Szene, die einen schon beim Zuhören erschaudern lässt. Gerade wenn man weiß, dass der Titel der Hymne “Noch ist die Ukraine nicht gestorben” lautet.

“Die Russen schnaubten uns an, schrien, keinen Meter weiter oder wir schießen euch die Beine weg.” Plötzlich fielen tatsächlich Schüsse, die Kugeln sausten über die Köpfe der ukrainischen Soldaten hinweg. “Aber wir blieben einfach stehen, so lange, bis die Russen kapierten, dass wir nicht einfach so davonlaufen werden.”
Seither herrscht etwas, das sich von diesem Außenposten Europas bis tief in seinen Kern fressen könnte: Kalter Krieg. “Dort oben sind sie”, sagt Boris und deutet auf eine Anhöhe. Den Feldstecher behält er nur kurz vor dem Gesicht, steckt ihn dann schnell weg und schaut betrübt zu Boden. Jegliche Spannung ist aus seinem Körper gewichen. Gesenkter Blick, herabhängende Schultern, Ratlosigkeit. Vor uns steht ein Mann, der nichts mehr mit einem verwegenen Kommandanten gemein hat. Er wirkt nur noch wie ein Soldat, der die Zukunft fürchtet. Boris war es, der uns nach einigem Verhandeln die Tore zur Kaserne geöffnet hat. Es ist ein weitläufiges Areal mit weißen Bauten, Kolonnaden und all der Architektur, die Stalin schätzte. 1941 errichtet, nahm hier später die Rückeroberung der von den Deutschen besetzten Krim durch die Rote Armee ihren Ausgang.

“Wenn der Feind kommt, hast du gerüstet zu sein. Tapfer, mutig und kampfbereit, das lernten wir”, sagt Boris. Als er vor 23 Jahren in die Armee eintrat, befand sich die Sowjetunion gerade in ihren letzten Zügen. Seinen Eid sollte der heute 41-Jährige 1992 schon auf die neu gegründete Ukraine ablegen. “Unsere Kommandanten bläuten uns ein, dass der Feind aus dem Westen komme. Und nun sind es Russen, die ihre Gewehre auf uns richten?”
Aus dem 800 Kilometer entfernten Kiew treffen längst keine Anordnungen mehr ein, keine Befehle, bloß der Aufruf, sich gefechtsbereit zu halten. Aber Verstärkung, Truppen, all das, was nötig wäre, um Widerstand zu leisten? Boris schüttelt den Kopf. “Nein, nichts dergleichen.” Die Männer hier, die meisten von ihnen seit Jahrzehnten in der Armee, fühlen sich im Stich gelassen, realisieren langsam, dass sie das letzte Aufgebot eines Staates darstellen, der sie schon aufgegeben hat. Den Russen in Zahl, Ausrüstung und Kampfstärke weit unterlegen, bleibt den Ukrainern hier nur die Hoffnung. Die Soldaten stammen aus allen Teilen des in sich so zerrissenen Landes, manche aus dem bäuerlichen Westen, viele aus dem Russland näher stehenden Osten und einige sind gleich um die Ecke aufgewachsen, in den Dörfern und Städten der Krim. Alle sprechen sie Russisch, wie es hier auf der Halbinsel üblich ist.
Regen setzt ein, wir folgen Boris in einen Rohbau am Rande der Garnison. Aus einem kleinen Radio tönen russische Schlager, auf dem Tisch stehen ein paar Flaschen Wein, Krimsekt und Wodka. Es ist Samstag, der 8. März, Weltfrauentag. Ein Grüppchen hat sich versammelt. Männer in Uniform mit umgeschnallter Kalaschnikow, daneben ihre Frauen. Tagelang konnten sie einander nicht sehen. Seit die Russen sich oben auf die Anhöhe zurückzogen, herrscht Ausnahmezustand, Ausgangsverbot. Alle verfügbaren Waffen wurden ausgegeben, alle Männer haben Position bezogen. Erst an diesem Festtag, an dem es nichts mehr zu feiern gibt, durften die Ehefrauen aus den umliegenden Wohnbarracken zu ihren Männern in die Kaserne.

Angst, im Alkohol ertränkt.

“Nächtelang habe ich nicht geschlafen”, sagt Kristina, die Blonde in der engen roten Hose, “ist es das alles wert, habe ich mich gefragt. Wir haben mit den Russen so viel gemein, sie sind doch unsere Brüder?” “Brüder”, fragt Sergej, der Leutnant mit der Pelzmütze auf dem Kopf wütend, “welcher Bruder kommt ungefragt in dein Haus, nimmt dir deine Sachen, klaut dir deinen Grund?” “Na ja”, entgegnet Kristina, “unser Grund? Das war schon immer Russland, bis der betrunkene Sowjet-Chef Chruschtschow 1954 den Ukrainern die Krim vermacht hat.” Der Regen wird stärker, die Worte härter, der Alkohol ist es längst. Bald erzählen sie sich von den Anfeindungen dort draußen im Dorf. Den Kindern, die sie aus der Schule nehmen mussten, weil die Mitschüler deren Väter verspotteten. Den Leuten, die sie fragen, was sie hier eigentlich noch verloren hätten. Ein Land verteidigen, das kaum einer will? Als Caesar, der dicke Hund, der anfangs benommen am Boden lag, zu bellen beginnt, vermag nur noch der Wodka die Unstimmigkeit zu ertränken. “Krieg zerstört und vernichtet”, antwortet Boris schließlich auf die Frage, ob er auf die Russen schießen würde. “Schießen?”, fragt auch Dima und schüttelt den Kopf, “wir werden sehen.”

Die Verlassenen von Lubimowka, auch wir lassen sie zurück, fahren runter ans Meer, nach Sewastopol, der Stadt der stolzen russischen Schwarzmeerflotte. Es ist längst dunkel, als im Scheinwerferkegel des Autos ein Checkpoint auftaucht. “Wo wir sind, ist Russland”, steht auf einem Schild, über dem die russische Flagge weht. Männer in Tarnuniform halten jeden Wagen an, suchen nach Waffen, erwarten, dass die “Faschisten aus Kiew”, wie sie sagen, jeden Moment hier auftauchen werden. Uns lassen sie passieren, hinab in die Stadt, in der weit nach Mitternacht nur noch ein paar Ehemänner den Weltfrauentag torkelnd ausklingen lassen.

Plötzlich stoppt ein kleiner silberner Peugeot neben uns. Darin drei Männer, zwei ganz in Schwarz, einer in Tarnuniform, die Gesichter unter schwarzen Strickmasken verborgen. Sie springen heraus. Stürmen auf unseren Wagen zu. Einer zückt eine Pistole. Ein Überfall! Ich steige aufs Gas. Höre einen Knall. Er hat geschossen, scheinbar auf unseren Wagen gezielt. Wir preschen durch Sewastopol. Fahren rechts in eine Straße rein. Versuchen zu entkommen. Sie sind hinter uns her. Im Rückspiegel wird der Abstand kleiner. Die Straße endet. Eine Einbahn folgt. Wir sitzen in der Falle. Versuchen gegen die Einbahn zu entkommen, kehren zur Hauptstraße zurück. Dort schießt ein roter Lada mit angeschalteter Warnblinkanlage direkt auf uns zu. Ich bremse, bleibe stehen. Aus dem Lada springen ebenfalls Vermummte, reißen unsere Türen auf. Es ist aus! Einer fuchtelt mit der Pistole, schreit “raus, raus, raus!” Wie Besessene machen sie sich über unseren Wagen her. Nein, es sind keine Straßenräuber, die uns hier willkommen heißen, sondern, wie sich bald herausstellt, die Mitglieder der so genannten Selbstverteidigungsbrigaden Sewastopols.

Russisch, Teil 1: Erst schießen, dann fragen.

Sie glauben nicht, dass wir Journalisten sind, vermuten wir wären Aufwiegler und Unruhestifter aus Kiew. Unser Kennzeichen ist ihr einziges Indiz. AA, was für die verhasste Hauptstadt des “Maidan” steht, prangt auf der Nummerntafel unseres Leihwagens. Bald umringen uns 15 Männer, durchsuchen Koffer, Rucksäcke, Fotoausrüstung. Ein Polizeiauto nähert sich, doch der Anführer der Brigade gibt den Beamten zu verstehen, dass sie hier nicht gebraucht werden. “Verschwindet von hier, so rasch, wie ihr könnt”, sagt einer schließlich zu uns, “ihr Journalisten aus dem Westen habt so viel Lügen verbreitet, dass euch alle nur noch hassen.”
Der nächste Tag, der Versuch für etwas Versöhnung zu sorgen. Doch der russische Bär reagiert gereizt, gedemütigt, in die Enge getrieben. Das, was in Kiew geschieht, vergleicht er nur noch mit dem Hakenkreuz. In Brüssel und Washington vermutet er Verschwörungen. Nur Moskau, nur Putin verspricht Rettung. Dessen Plan scheint aufzugehen, die Opfer werden in Kauf genommen und die Verlassenen von Lubimowka werden nicht die einzigen bleiben, die auf verlorenem Posten stehen.

Erschienen in NEWS 11/2014

Anmerkung: Die Kaserne 4515 zählte zu den letzten auf der Krim, die von den ukrainischen Streitkräften geräumt wurde. Erst als russische Kräfte sie umzingelten und Schüsse abgaben sowie Blendgranaten einsetzten, erklärte sich der Kommandant bereit, sie zu übergeben.

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