TRANSNISTRIEN. „Wladimir, hol uns heim!“ Nach der Ukraine steht das absurdeste Land Europas als nächstes auf Putins Speiseplan. Offiziell auf keiner Karte eingezeichnet, lebt am Dnestr die Sowjetunion weiter. Eine Zeitreise zurück in die UdSSR.
Auf einmal sind da Sperren aus Beton und Zäune aus Stacheldraht. Hinter uns liegt die Ukraine. Oder „Neu Russland“, wie Wladimir Putin wohl sagen würde. Deren Krim hat er sich ja schon einverleibt, den Osten des Landes erfolgreich destabilisiert und die bitter nötigen Präsidentenwahlen am kommenden Sonntag dort verhindert. Und nun rollen wir zu den Grenzbalken jenes Staates, der als nächstes auf Putins Speisekarte steht: Transnistrien, oder, ganz offiziell, die Pridnestrowische Moldawische Republik.
Noch nie gehört? Auf keiner Karte eingezeichnet gesehen? Kein Wunder, sind wir doch kurz davor, in ein Absurdistan mitten in Europa einzureisen.
Ein Mann im gefleckten Tarnanzug baut sich vor uns auf. Musternd blickt er auf die Pässe, betrachtet die Papiere und greift bald resolut zum Hörer. Ein Anruf in seiner Hauptstadt, die bloß ein paar Kilometer hinter der Grenze liegt, schafft Klärung. Wir sind da. Angelangt im Staat, den es gar nicht gibt. 200 Kilometer ist er lang und an der schmalsten Stelle nicht einmal 5 Kilometer breit. Ein von Moldawien abtrünniger Streifen, der sich wie ein Würmchen mit seiner halben Million Einwohner entlang des Flusses Dnestr zwängt.
Lada, Wolga und plötzlich Tempo 150.
Mit jedem Kilometer, den wir uns der Hauptstadt Tiraspol nähern, reisen wir zurück in der Zeit. Das GSM-Signal des Telefons wird schwächer und verschwindet bald ganz. Funkstille, sofern man nicht ein Handy besitzt, das auch in Nordkorea schon Verwendung gefunden haben soll. Entlang von Nussbaum-Alleen häufen sich Plakate, die die 23-jährige Existenz der Republik preisen. Dort, wo bei uns am Straßenrand für Markenware geworben wird, prangen hier Hammer und Sichel auf Plakaten. Es sind bis heute die Staatsinsignien von Transnistrien.
Verkehr herrscht kaum, bloß alle paar Minuten zuckelt ein Lada oder Wolga vorbei. Und dazwischen die ein oder andere schwarze Luxuslimousine. Deren Fahrer, meist verborgen hinter verdunkelten Scheiben, setzen mit Tempo 150 zum Überholen an.
Arbeiterbrigaden sind am Straßenrand damit beschäftigt, die Wege zu kehren und die weiße Farbe an den Gehsteigkanten neu aufzutragen. Transnistrien putzt sich heraus. Denn am nächsten Tag ist es soweit, wie die Staatszeitung „Prawda“ ganz aufgeregt berichtet. Er kommt wirklich, steht da geschrieben, und das, obwohl die Ukraine seinem aus Moskau startenden Jet keine Überfluggenehmigung erteilen will. Aber irgendwie, hofft die „Prawda“, wird er es schon schaffen, rechtzeitig bei der Parade einzutreffen.
Was in der „Prawda“ steht, stimmt.
Die Rede ist von Dmitri Olegowitsch Rogosin, seines Zeichens erster Vizepremier Russlands und Nummer 3 der Macht in Moskau – gleich hinter Präsident Putin und Premier Medwedew. „Eine Ehre und ein Signal für unsere stolze Republik zugleich“, stellt die „Prawda“ euphorisch fest.
Entsprechend aufgeräumt präsentiert sich Tiraspol mit seinen 150.000 Einwohnern. Die Hauptstraßen, nach Karl Liebknecht und Karl Marx benannt, sind frei von Zigarettenstummeln oder weggeworfenem Papier. Die Lenin-Statuen glänzen, die Büsten vor dem Obersten Sowjet bedürfen auch keiner weiteren Politur. Alles ist so wie damals, als wir nicht das Jahr 2014 schrieben, sondern vielleicht 1974.
Am nächsten Morgen, bei vollem Sonnenschein und blauem Himmel, zeigt sich, dass die „Prawda“ ihrem Namen, der übersetzt „Wahrheit“ heißt, wieder einmal alle Ehre gemacht hat. Denn auf der Festtribüne hat unter Jubel und Beifall ein etwas korpulenter Mann in Gardeuniform Platz genommen. Der Gast aus Moskau, Putins Gesandter, er ist tatsächlich eingetroffen.
Musik ertönt, Truppen marschieren auf und ab, Salutschüsse fallen. Die auf den Tribünen versammelten Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg müssen bald glauben, ihre Sowjetunion wäre niemals untergegangen.
Und auch der Mann aus Moskau weiß, was er seinen Brüdern und Schwestern am Dnestr schuldig ist. Lang und breit erklärt er der Reporterin des transnistrischen Staatsfernsehens, dass Russland nicht auf die Menschen hier vergessen werde. Bald fallen Begriffe wie „ewige Freundschaft“, „Brüderlichkeit“ und „Untrennbarkeit.“ Doch, wenn dem so ist, warum hat bislang nicht einmal Moskau die abtrünnige Republik anerkannt?
Der Aufmarsch-Plan ans Schwarze Meer.
Wir verlassen die Hauptstadt, fahren durch ein entschleunigtes Land vor unserer Zeit und sehen bald russische Truppen entlang des Dnestr campieren. Es ist die 14. russische Armee, die mit 2.000 Mann in Transnistrien stationiert ist. Und das seit 1992, als sich der Landstreifen rechts des Dnestr von Moldawien abspaltete. Damals, in den Wirren der zerfallenden UdSSR, plante die einstige Sowjetrepublik Moldawien den Anschluss an Rumänien. Die großteils russischsprachigen Transnistrier wurden fortan zum Opfer anti-russischer Propaganda.
Die Folge war Krieg. Über 1.000 Menschen starben binnen Wochen, Russland schickte seine Armee, Transnistrien entstand – und die Bruderarmee blieb.
Nun rüstet der Kreml hier auf, stattet seine Soldaten mit modernsten Waffen aus. Militärstrategen nehmen an, dass genau diese Truppen von Transnistrien kommend in die südliche Ukraine einmarschieren werden. Dort bis ins nicht einmal 100 Kilometer entfernte Odessa vorstoßen könnten und damit zum wichtigsten Schwarzmeerhafen der Ukraine.
Um hingegen die Transnistrier selbst von den Vorzügen Russlands zu überzeugen, dazu bedarf es keiner Armee. Während Moldawien weiter darauf hofft, Aufnahme in die EU zu finden und Brüssel positive Signale aussendet, weiß sich Putin seiner Transnistrier sicher und treibt so – nach der Ukraine – einen Keil durch das nächste Land Europas. „Das dort sind Rumänen, wir Russen“, heißt es in jedem Dorf, „wir sind arm, aber die noch ärmer“, lautet der bittere Nachsatz. „Was wollen wir in einer EU mit eurer Gen-Landwirtschaft und all der Industrie“, fragt ein Bauer, der die Saat noch mit dem Pferd ausbringt, „da sind wir mit Moskau allemal besser aufgehoben. Und die da drüben in Moldawien wären es auch.“
Der „Sheriff“ von Transnistrien.
Wir fahren die einzige Hauptstraße Transnistriens hoch in den Norden, vorbei an einem großen Stahlwerk und einer Waffenfabrik. Das schwarze Loch Europas sei dieses Land, heißt es aus Moldawien, ein Mafia-Staat, der vom Schmuggel lebt.
Je länger wir fahren, desto öfter sehen wir einen gelben Stern. Er prangt an Tankstellen, Supermärkten, Casinos und den spärlichen Werbetafeln für den Internet- und Telefonanbieter und das einzige Privat-TV des Landes: Sheriff lautet der Name des Konzerns. Ein Wort, das den zwei ehemaligen Polizisten, die ihn gegründet haben, wohl gefallen haben dürfte. Sheriff, das ist die Schattenmacht Transnistriens. Bei dem Konzern, der einer Krake gleicht und die Unterstützung Moskaus findet, laufen all die Fäden zusammen. Als etwa der erste Präsident des Landes, er hieß Igor Smirnow, in Ungnade fiel, verhalf Sheriff dessen Herausforderer zum Wahlsieg. Und so kommt es, dass der rote Sowjetstern zwar immer noch präsent ist, aber der gelbe des Sheriffs allmählich das Land in Besitz nimmt. Bloß, wohin steuert dieses Transnistrien, das in der Vergangenheit gefangen scheint, aber annimmt, seine besten Tage stünden unmittelbar bevor?
Moskau verhält sich zu Transnistrien wie der Mann zur verschmähten Geliebten. Hie und da macht er ihr die Aufwartung. Weckt mit Geschenken ihre Hoffnung auf ein Zusammenkommen, enttäuscht und vertröstet sie aber dann doch von Mal zu Mal. Nun aber, nach der Krim und der Ostukraine, ist die transnistrische Geliebte so euphorisch wie noch nie. Wird Putin sie dieses Mal erhören? Oder wird er sie weiterhin taktisch klug und geschickt benutzen?
„Wer außer Russland soll uns denn sonst helfen“, fragt Tatjana Kurkina. Sie ist 88 und war am Tag zuvor als gefeierte Heldin der Sowjetunion auf der Parade. Nun stehen wir in ihrem bescheidenen, aber gepflegten Wohnzimmer. Die Jacken mit all den goldenen Abzeichen und Orden halten Kurkina und ihr Ehemann Alexej, der rüstige 90 ist, in Ehren. „Putin ist entschlossen und hart“, sagt er, der im Weltkrieg selbst an vorderster Front gegen die Nazis kämpfte, „Brüssel hingegen ist schwach und zerstritten. Also, wo sind wir besser aufgehoben?“ Schließlich offeriert der alte Herr Wodka. Wir trinken auf den Frieden und darauf, dass die Russen nicht wieder gehasst werden. „Gerade nicht in Österreich“, meint Alexej, „denn wer hat euch denn von den Nazis befreit?“
Vom Kampfpanzer zum Tank-Top.
Als es Nacht wird in Tiraspol und die Panzer zurück in ihren Kasernen sind, zeigt die Stadt ein anderes, unerwartetes Bild. Es ist eine Reise vom Kampfpanzer „T-60“ zum Tank-Top in der Disco. Eine Verwandlung von der braven Pionierin, die die rote Fahne schwingt, zur wilden Tänzerin, die ihre Hüften kreisen lässt. Es ist die Lust auf ein Leben außerhalb der Zeitkapsel, die aus den Boxen dröhnt. Und der Wunsch nach einem Weg auch in den Westen, der gerade unter den Jungen größer wird.
Plötzlich gesellt sich ein Mann im weißen Anzug zu uns. Fragt, woher wir kämen, was wir hier machten und welche Eindrücke wir nach Hause nehmen. Über sich selbst verrät er wenig. Lieber erkundigt er sich, ob wir die gemachten Fotos schon nach Wien geschickt hätten. Bloß: dass wir Journalisten sind, hatten wir ihm nie gesagt. Unser neugewonnener, neugieriger Freund, den wir später telefonierend am Ausgang stehen sehen, muss über unser dortiges Auftauchen vorab informiert worden sein. Von denen, die uns beschatteten? Oder ist alles nur Zufall? Ein wenig Paranoia, nach den Tagen fern der vertrauten Wirklichkeit? Wir werden es nie erfahren.
Erschienen in NEWS 21/2014