UNSERE EINZIGE KOLONIE. Vor 80 Jahren wanderten 789 Österreicher nach Brasilien aus und gründeten eine Kolonie. Die arme Ansiedlung ist zu einer blühenden Stadt geworden und ist heute der wohl österreichischste Ort der Welt – samt Lederhosen, Schuhplattlern und Speckknödeln.
Was geschieht, wenn Österreicher auswandern? Nicht allein oder als Familie, sondern gleich zu Hunderten und das aus purer Not. Sich in den düsteren 30er-Jahren im Hafen von Genua auf Atlantik-Kreuzer zwängen und von dort ablegen in eine neue, fremde Welt. Gestandene Tiroler, aber auch Vorarlberger und Salzburger, denen die Heimat keine Zukunft mehr bietet und die hoffen, im fernen Brasilien eine solche zu finden. In der bis heute einzigen österreichischen Kolonie der Welt. Wie sieht solch ein Ort, 10.000 Kilometer fern der Alpen, 80 Jahre später wohl aus?
„Sad’s es leicht wegen da WM do?“
Wir nähern uns der Gemeinde Dreizehnlinden, oder Treze Tílias, wie sie übersetzt ins Portugiesische heißt. Liebliche Hügel prägen die Landschaft. Auf den ersten Blick könnte es das Alpenvorland sein, würden da nicht zwischendurch immer wieder auch Palmen oder Pinien auftauchen. 1.200 Kilometer südlich von Rio de Janeiro, im Bundesstaat Santa Catarina, steht da plötzlich ein aus Ziegeln gemauertes Tor. Das Giebeldach ist mit dunklem Holz verkleidet und ganz oben thront ein Wetterhahn. „Fühl Dich zu Haus“, fordert die Inschrift im Tor in Deutsch und Portugiesisch auf. Und wir fahren hinab in ein Tirol unter Palmen.
„Griaß enk“, heißt’s im Hotel Dreizehnlinden, einem Haus, das mit seiner Architektur genauso gut im Zillertal oder Ötztal stehen könnte. „Sad’s es leicht wegen da WM do“, fragt Hausherr Conrado Moser, „oder woid’s schauen, ob’s uns eh no gibt?“ Nichts ist in diesem Moment ferner als die FIFA, der Fußball und die nicht gerade große Vorfreude auf die Weltmeisterschaft in weiten Teilen Brasiliens. Wobei Brasilien? Hotelwirt Moser könnte seine Gäste so auch in Sölden begrüßen. Seine Mundart ist tirolerisch, die der Tochter an der Rezeption ebenso und wer sich in der Stube des Hotels umsieht, wo gleich eine alpine Pappfigur im Trachtenjanker steht, glaubt, Österreich nie verlassen zu haben. Wer, wie wir, den Ort Dreizehnlinden vor der Ankunft googelt, dem springen Bilder all dieser rustikalen Häuser ins Gesicht. Aber wer weiß, vielleicht sind es die vier, fünf immer gleichen, die da fotografiert wurden? Erst wer später oben auf dem Holzbalkon steht, beginnt sich die Augen zu reiben: Rundherum nur alpines Bauwerk, daran Aufschriften wie „Edelweiß-Bar“, „Bierbaum“ oder „Schoko-Paradies“. Im Zimmer hängt an der Wand ein Bild von Heiligenblut am Großglockner und im Frühstücksraum erklingt die Kuckucksuhr. Nicht die Wirklichkeit ist die optische Täuschung, sondern die Google-Voransicht.
Bergbauern gründen eine Überseekolonie.
Das Moser’sche Hotel ist voll von Schnitzfiguren aus der Hand des Hausherren. Den Herrgott, die Heiligen, die Jungfrau Maria, aber auch den Tiroler Landesadler formte Conrado schon aus brasilianischem Holz. Das Heilige Land hat, so scheint es, seine frömmsten Jünger in die Ferne geschickt. Bei Moser war es der Großvater, der in den frühen Dreißigerjahren in der Tiroler Wildschönau kein Auslangen mehr fand. „Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise, den Hof erbte der Älteste, den anderen blieb nichts“, erklärt Conrado, „aber die Überfahrt war teuer. 1.000 Schilling, während eine Kuh 600 Schilling wert war.“ Gerade die Bergbauern darbten, hungerten und wussten nicht mehr, wie sie ihre Familien ernähren sollten. Da entstand der Plan eines Mannes, der anfangs als Spinner abgetan wurde: der damalige Landwirtschaftsminister Andreas Thaler. Der Tiroler hielt in seinen Schriften zwar fest, dass „unser Vaterland Österreich das schönste Land der Erde ist. Und wir nirgends in der Welt ein solches wiederfinden werden.“ Trotzdem glaubte er, dass die Gründung einer Kolonie zumindest die Not mancher lindern könnte.
Thaler erkundete Südamerika, suchte nach einem geeigneten Staat, in dem seine Landsleute heimisch werden könnten und wurde in Brasilien fündig. Im fünftgrößten Land der Welt, das heute 190 Millionen Einwohner hat, lebten damals gerade einmal 40 Millionen Menschen. Und so legten ab 1933 die ersten Schiffe von Genua in Richtung neuer Welt ab. An Bord der insgesamt 14 Überfuhren befanden sich 789 Auswanderer. Meist waren es Bergbauern, Landarbeiter oder Knechte, aber auch einige „Ausgesteuerte“ aus den Städten, die, teils allein oder mit ihren Familien, die Reise nach Brasilien antraten. Es müssen jedenfalls tatkräftige Menschen gewesen sein, denn das, was sie nach sechs Wochen Überfahrt in dem von Ex-Minister Thaler angekauften Gebiet vorfanden, war Wildnis. Land, das urbar gemacht werden wollte. Thaler, der sich als Kolonisator mit Rauschebart gab, wies den Ankommenden sogleich Parzellen zu und überwachte streng, dass sie sich innerhalb eines Jahres selbst versorgen konnten.

Valter, das Original vom Lindendorf (Foto: Ricardo Herrgott)
Während das damalige Österreich in den Zweiten Weltkrieg trieb, blühte die kleine Kolonie am anderen Ende der Erde auf – und geriet in Vergessenheit. Der Kriegseintritt Brasiliens gegen Hitler-Deutschland machte ihre Lage nicht leichter. Bald war es verboten, Deutsch zu sprechen, Babys bekamen brasilianische Vornamen und Dreizehnlinden wurde zu Treze Tílias. Wer aber die alten, schon vergilbten Bilder aus den ersten Jahrzehnten der Kolonie betrachtet, dem wird klar, dass sich eines dennoch nie tilgen ließ: die Verbundenheit zu Österreich und besonders zu Tirol, woher die meisten Ahnen stammen.
„Auf geht’s, Buam“, ruft daher Valter am nächsten Tag ins Mikrofon. Valter? „Jo mei, desch W hoben’sch auf’m Amt do in Brasilien irgendwonn zu am V gmocht.“ Sonst aber hat sich der Mann in der Krachledernen und dem rot-weiß-rot karierten Hemd wenig von der alten Heimat nehmen lassen.
„Piefke-Saga“ auf Brasilianisch.
Beschwingt greift er in die Tasten seiner Ziehharmonika und schon geht’s los. Die „Buam“, vier an der Zahl und ebenfalls in alpiner Tracht, klopfen sich auf die Schenkel, drehen sich um die eigene Achse und wirbeln ihre „Weiberleit“ im Dirndl durch die Luft. Als die ersten Jodler-Jauchzer ertönen, zucken die Gäste unten an den Tischen kurz zusammen, starren aber bald wieder ungläubig auf die Bühne. „Mitklatschen müsst’s“, befiehlt Valter von dort auf Portugiesisch. Und tatsächlich: die, die gerade noch mit Messer und Gabel gegen jenen komischen, mit Speck gefüllten Knödel ankämpften, legen das Besteck weg und schunkeln mit. „Jo, desch g’follt dem Goscht“, wird Valter später feststellen und sich nicht weiter wundern. Immerhin greift er Tag für Tag in die Tasten und erlebt, wie die Brasilianer erst andächtig schauen, bald aber selbst Gefallen finden am Schuhplattler-Schauspiel vor ihnen.
Wir sind auf einem Areal, das sich Lindendorf nennt. Und würden dort nicht überall Palmen stehen, wäre es nur ein weiterer Ort, der direkt der „Piefke-Saga“ entstammen könnte. Selbst die ein oder andere brasilianische Flagge, die im Wind weht, tut dieser Vorstellung keinen Abbruch, flattert doch stolz daneben jene in Rot-Weiß-Rot samt heimischem Bundesadler.
Schnitzel im Restaurant, „an Obstler“ beim Wirt, die Lederhosen und das Dirndl im Geschäft und den Tirolerhut am Kopf. Wer Klischees sucht, wird in Dreizehnlinden fündig. Wobei das die Dreizehnlindner selbst nie so sehen würden. „Wir san so, wia ma uns de oide Heimat vorstöin“, sagt Helga Zeisler-Feilstrecker, die Direktorin der Grundschule, im reschen Tirolerisch. „Mei Vota und mei Muatta san mit’m Thaler domois herkimma. I söba wor nu nie in Österreich.“ Und so kommt’s, dass 10.000 Kilometer westlich des Alpenhauptkamms, im Süden Brasiliens, die Vorstellung eines Österreichs weiterlebt, das es so heute längst nicht mehr gibt. Oder, wenn doch, dann wohlkonserviert in Tiroler Berghütten zur Freude der Gäste aus dem Nachbarland.
„Damit da Gosch sei Freie hot“
Die 6.300 Einwohner von Dreizehnlinden haben sich hier, fernab des ganz normalen brasilianischen Wahnsinns, ein Idyll der Ruhe und des Friedens geschaffen. Eine Welt, die auch den von Gewalt und Kriminalität geplagten Großstädtern aus Sao Paulo und Rio gefällt. Immer zahlreicher versuchen sie, ihren Multimillionenmetropolen zu entkommen, um in „O Tirol Brasileiro“ zumindest ein paar Tage Zuflucht zu finden. Und da der Tiroler, geschäftstüchtig wie er ist, das spürt, dreht er gern die ohnedies vorhandenen Klischees noch ein paar Amplituden hoch, damit „da Goscht sei Freid hot.“
Nur eines verwundert an diesem wohl österreichischsten Ort der Welt. Von den alten Häusern, die Thaler und seine Leute damals errichteten, ist keines mehr übrig. „Alles schon verfault und vermodert“, heißt es unten in der Stadt, bevor wir aufbrechen. Doch da taucht, auf dem Weg nach draußen, plötzlich ein wunderschönes, altes Holzhaus am Wegesrand auf. Errichtet 1942 steht oben am Giebel. Albrecht Felder, der Hausherr mit Vorarlberger Vorfahren, erzählt, dass es das einzige erhaltene Gebäude aus den ersten Jahren der Kolonisierung sei. Er besitzt Milchkühe und Schafe, deren Fell er gerbt und verkauft. Aber sonst, so scheint es, schneidet er am größer werdenden Kuchen unten im Ort kaum mit. Sein Haus taucht auch in keiner der Glanzbroschüren des Tourismusverbandes auf.
„Jo, so san’s hoid, die Tiroler, de lossn kann zuwi“, sagt Albrecht ganz und gar nicht böswillig und lacht dabei verschmitzt.
Erschienen in NEWS 23/2014