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Samba der Gewalt

Paula und zwei ihrer Corps auf Streife (Foto: Ricardo Herrgott)

Paula und zwei ihrer Cops auf Streife (Foto: Ricardo Herrgott)

Paula Apulchro, 26, ist Brasiliens jüngste Polizeichefin. In einer gefährlichen Favela dirigiert sie 120 Cops. Wir haben sie begleitet.

Du bist eine Frau, 23 Jahre alt und kommst frisch von der Polizeiakademie. Drei Jahre haben sie dich dort ausgebildet. Harter Drill, jeden Wochentag von 5 Uhr in der Früh bis 10 am Abend. Laufen, Schwimmen, Sit-Ups, Liegestütz, Schießen. Ihr wart 130, darunter nur sechs andere Frauen und du. Brachtet ihr nicht die selben Leistungen wie die Männer, wart ihr weg.

Es ist Nacht, ihr seid allein, Schüsse…

Du hast es geschafft und bist nun Kommandantin einer kleinen Einheit. Gleich von Anfang an unterstehen dir drei Männer. Du weißt genau, dass sie hinter deinem Rücken Witze über dich machen. Die Kleine, die Zierliche, die Zicke, so nennen sie dich wohl. Vielleicht auch Vulgäreres, doch das interessiert dich nicht. Hey, das ist Brasilien, Rio de Janeiro, und du bist nicht naiv. Im Dienst respektieren sie dich, das ist es, was für dich zählt. Am Ende hast du zwei Sterne auf der Schulter und sie keinen, so einfach ist das.

Und dann, eines Nachts, als ihr zu viert Dienst schiebt in einer abgelegenen, nicht gerade guten Gegend im Norden von Rio, kommt dieser Anruf.

Autos sollen geraubt worden sein. Typen hätten auf offener Straße Wagen angehalten, den Insassen die Pistole an die Schläfe gedrückt und sie aus den Fahrzeugen gezerrt. Die Täter, sie seien noch dort, heißt es, bevor du den Hörer auflegst. Als ihr zu viert ins angegebene Gebiet fahrt, ist Angst mit an Bord. Du bist kein Rambo und die Furcht ist gut, denn sie lässt dich wachsam bleiben. Als ihr euch dem Tatort nähert, forderst du über Funk Verstärkung an. Und dann, völlig unerwartet, noch weit vor der angegebenen Adresse, fallen die ersten Schüsse. Von oben? Von der Seite? Du kannst es nicht sagen. Lässt sofort den Wagen anhalten. Weist deine Männer an, wie sie sich in Deckung bringen sollen. Ziehst wie sie deine Waffe.

Doch es ist stockdunkel. Du hörst nur, wie weitere Schüsse fallen. Ihr seid allein, ungeschützt und auf euch wird aus dem Nichts heraus geschossen. Du bleibst ruhig. Robbst weg von der Straße. Verschanzt dich in einem Hauseingang und gibst deinen Kollegen Deckung. Wieder Schüsse. Du und deine Kollegen, gemeinsam fürchtet ihr um euer Leben. Rundherum ist niemand, die Straßen sind leer, aber irgendwo stehen Banditen, die euch tot sehen wollen. Erst nach Minuten, die euch wie Stunden vorkommen, hört das Geballere auf. „Danke Comandante“, wird einer deiner Kollegen, der sonst für sein hartes Gehabe und seine derben Späße bekannt ist, später auf dem Revier sagen, „Sie haben besonnen gehandelt und unser aller Leben gerettet.“

90 tote Polizisten in einem Jahr.

Als Paula Apulchro diese Geschichte erzählt, steht sie hoch über den Dächern von Rio. Unter ihr breitet sich die weltbekannte Copacabana aus. Das Meer schimmert, es hat 28 Grad. In wenigen Tagen beginnt die Fußball-WM. Paula hat ihr langes Haar wie immer hochgesteckt, trägt eine hellblaue Bluse. An deren Kragen ist ein silbernes Abzeichen angebracht: zwei gekreuzte Pistolen. Drei Jahre sind seit jener Nacht vergangen, die sie gerade schilderte. Drei Jahre, die alles in der Stadt veränderten und Paula zu einer der wichtigsten Frauen in der Polizei von Rio de Janeiro gemacht haben.

„Ich habe euch diese Geschichte nicht zufällig erzählt“, sagt sie, „sondern, damit ihr versteht, wie der Alltag in dieser Stadt aussah. Täglich Schießereien, Dutzende Tote. Ein Jahr verging und 90 Polizisten waren ermordet worden. Jeden vierten Tag fand ein Begräbnis für einen Kollegen statt.“ Paula blickt zu Boden, als sie diesen Satz vollendet hat. Will sie ihn nur wirken lassen oder kann sie es selbst bis heute nicht fassen? „Der Staat, die Polizei, wir hatten völlig die Kontrolle über weite Teile von Rio verloren gehabt.“

Sie steigt über Eisentreppen nach unten. Männer in Uniform und mit Maschinengewehren kommen ihr entgegen. Sie salutieren vor Paula. In dem dreistöckigen Gebäude ist es stickig und heiß. Die überall angebrachten Ventilatoren vermögen daran kaum etwas zu ändern. Als sie ihr Büro betritt, legt sie die Pistole vor sich auf den Schreibtisch – es ist eine Taurus, Model PT 100, mit elf Schuss Munition. Paula deutet auf die Pinnwand gegenüber, an der entlang eines Rasters Passbilder angebracht sind. Sie zeigen Polizisten, viele Männer und ein paar Frauen, insgesamt 106 Beamte. „Das sind meine Leute“, sagt die 26-Jährige stolz und muss gleichzeitig ein wenig kichern, „die haben mir alle zu gehorchen.“

Die Grenze zwischen Leben und Tod.

4. Bataillon der Befriedungseinheit der Militärpolizei von Rio de Janeiro (UPP), Station Babilônia, Kommandantin: Leutnant Paula Apulchro. So steht es am Eingang zu diesem Hauptquartier, das mitten in einer Favela direkt über der Copacabana liegt. Unten am Meer reiht sich ein Hotel ans andere, Menschen tummeln sich am Strand, schwimmen, spazieren an der Promenade. Und genau von dort zweigt eine Straße ab. Windet sich den Hang hoch. Bald gibt es nur noch Häuser im Rohbau und Hütten, die sich wie Bienenwaben in den Berg hineinpressen. Es ist der Beginn der Favela, der Anfang eines Schattenreichs und bis vor kurzem noch die Grenze zwischen Leben und Tod. Bis heute weigert sich manch Taxifahrer, die steile Straße nach Babilônia hochzufahren. Dort, wo nun Paula und ihre Truppe Dienst tun, herrschte fast zwei Jahrzehnte lang ein einziger Mann: José Ricardo Ribeiro Rosa, genannt „Cagado“, übersetzt „der Vollgeschissene“. Er war der Anführer, der Boss, einer der gefürchtetsten Männer von Rio de Janeiro. Hier, ganz oben, an der Spitze des Hügels, hielt er Hof und jeden, der darunter wohnte in ewiger Abhängigkeit.

Paula schnallt sich den Gürtel mit ihrer Pistole um. Draußen dämmert es bereits, als sie mit drei Polizisten zur Abendpatrouille aufbricht. Der Weg führt durch ein dichtes Gewirr aus engen Gassen. Vorbei an Häusern und Hütten, aus denen Musik genauso dringt wie die abendliche Telenovela, das Plätschern der Dusche, das Spülen des Klos und jede erdenkliche Form zwischenmenschlichen Austauschs. Rio mag eine Großstadt mit mehr als sechs Millionen Einwohnern sein, aber ihre fast 1.000 Favelas, die sich oft direkt neben den Vierteln der Reichen wie Geschwüre die Hügel hochranken, sind Dörfer geblieben. Es muss leicht für „Cagado“ gewesen sein, Babilônia zu kontrollieren. Unten, an der Einfahrt, hatte er die „Olheiros“, seine Späher, platziert. Diese funkten mit Walkie-Talkies nach oben, sobald sich ungewollter Besuch ankündigte. Geduldet war nur, wer kaufte. Vom Gras über Koks bis zu Crack. Die Dandys und DJs, die Reichen und Schönen, sie fielen allabendlich wie Heuschrecken in die ersten Häuser am Rand der Favela ein, um sich dort mit „Marschierpulver“ aufzumunitionieren. Alles lag je nach Gewicht in farbigen, kleinen Säckchen für sie abgepackt bereit. Den Stoff für die Nacht gab es wie den Zucker für den Kaffee. Im grünen Päckchen befand sich ein Gramm Koks, das umgerechnet fünf Euro kostete, ein blaues Briefchen hieß fünf Gramm, die für 20 Euro Abnehmer fanden. Die Drogen waren das Schmiermittel von Rio: sie machten deren Dealer reich, deren Polizisten korrupt und deren Straßen zu Friedhöfen.

„Früher“, sagt Paula, während sie und ihre drei schwer bewaffneten Begleiter die Stiegen hinuntergehen, „war die Strategie der Polizei so einfach wie falsch zugleich: rein in die Favela, ein paar Banditen niederschießen und rasch wieder raus. Das haben wir geändert: wir sind gekommen, um zu bleiben.“

„Befriedet“ für den Fußball.

Spätestens als feststand, dass Rio WM-Schauplatz ist und 2016 auch die Olympischen Spiele ausrichten wird, war klar, dass Tore und Tote gemeinsam nicht funktionieren. Was folgte, war Krieg und der dafür gewählte Begriff der „Befriedung“ kann getrost als Euphemismus bezeichnet werden. Aus Hubschraubern und mit gepanzerten Wägen drang die Armee in etliche Favelas vor, später folgten 10.000 Polizisten, die fortan Tag und Nacht dort patrouillieren sollten. Die Bosse waren gewarnt und meist geflohen, deren Handlanger leisteten hingegen oft heftigen Widerstand. So endete auch die Herrschaft von „Cagado“, dem „Vollgeschissenen“. Dessen Leiche wurde Wochen nach der Rückeroberung der Favela Babilônia völlig entstellt in einem Müllcontainer gefunden. Seine Bosse vom „Comando Vermelho“, dem brutalsten Drogenkartell Rios, waren wohl über die spärliche Gegenwehr ihres Statthalters wenig erbaut gewesen.

Je tiefer Paula und ihre Männer nun in das Herz der Favela vordringen, desto achtsamer müssen sie sein. Paula geht mit der Pistole im Anschlag in der Mitte des Trupps, vor und hinter ihr marschieren die Kollegen mit der M16. Immer wieder erfolgen Anhaltungen, Durchsuchungen, Razzien leerstehender Lager. „Am gefährlichsten ist es, wenn alles ganz friedlich wirkt“, sagt Paula, „denn dann schleicht sich Sorglosigkeit ein. Der Kampf ist nicht beendet, gerade die Lage dieser Favela direkt über der Copacabana ist viel zu lukrativ, als dass die Banden sich geschlagen geben würden.“

Paulas stärkste Waffe.
Und trotzdem, wann immer Bewohner Paula sehen, tätscheln und herzen sie sie. Sie erwidert es, spricht mit ihnen über Ängste und Sorgen. Es ist wohl diese weibliche Intuition, dieser Wechsel von freundlich und offen, aber auch bestimmend und hart zugleich, der ihren raketenhaften Aufstieg zu einer von bloß zwei weiblichen Polizeikommandanten von ganz Rio erklärt. „Nur nett sein macht dich schwach“, sagt sie selbst, „nur brutal sein, aber ebenso.“ Noch immer ist ihr Arbeitsplatz kein beschaulicher. Noch immer ist es kein Ort, an dem sie ihre Kinder, die sie einmal haben möchte, aufwachsen sehen will. „Aber es ist ein guter Anfang. Nun muss die Stadtverwaltung kommen, Schulen bauen, das Leben der Menschen hier besser machen.“

Wenn Paula das sagt, spricht keine Tochter aus besserem Hause, der das Leben in einer Favela fremd wäre und die hier nur Dienst tut, um der eigenen Karriere einen Turbo zu verleihen. Sie selbst stammt aus einem dieser Viertel im berüchtigten Norden der Stadt. Der Vater, ein einfacher Motorradtaxifahrer, die Mutter Krankenschwester, sie alle waren täglich Zeugen der Gewalt. 6.000 Morde geschehen immer noch Jahr für Jahr allein in Rio. 6.000 Morde, das sind im Schnitt 16 an einem einzigen Tag. Paula ist durchaus bewusst, dass viel Marketing im Spiel ist, als die Polizei vor dem Beginn der WM gerade in jene Favelas geschickt wurde, die nah an den Touristenzentren und am Maracana-Stadion liegen. „Die Fußballfans brauchen sich nicht zu fürchten“, sagt sie resolut, „wir haben hier alles unter Kontrolle. Und solange Brasilien gewinnt, bleibt es ruhig.“ Nun kichert sie wieder, „aber vor dem Finale sollten wir nicht ausscheiden, denn sonst geht’s hier rund.“

Die junge Frau mit den rot lackierten Fingernägeln und der Pistole, sie ist eine der stärksten Waffen von Rio – nicht bloß im Kampf gegen das Verbrechen in den Favelas, sondern in dem vielleicht noch wichtigeren um die Herzen von deren Bewohnern.

Paulas Handgelenk zieren zwei Tätowierungen. Oben, ein kleiner Stern, der für die Polizei steht. Und darunter das Wort „Fé“, was übersetzt „Glaube“ und „Hoffnung“ zugleich bedeutet. „Denn jeden Tag will ich Vertrauen in mein Leben haben und in das, was ich tue.“

Erschienen in NEWS 24/2014

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