Die Arbeitsmigranten. Andrea ist 18 und will weg. Wie zuvor schon Millionen in ihrer Heimat Rumänien. Ihr Ziel ist Österreich, das Hunderte Busse ansteuern. Wir begleiten sie auf einer Reise ohne Wiederkehr.
Aschach, Gleisdorf, Golling, Seitenstetten. Es sind die Namen von Orten, die Andrea noch nie gehört hat. Überall dorthin würde sie ein Bus bringen. Morgen, übermorgen, in einer Woche. Sie schiebt den Balken der Webseite weiter nach unten. Auf Wels folgt Wien und dort macht sie einen Doppelklick. Ihre Entscheidung ist gefallen, das Ticket mit zwei weiteren Klicks reserviert. Was folgt, dient nur noch der Abwicklung ihres alten Lebens. „Und das ist schlecht“, sagt Andrea, „schlecht und Sch…“ Ja, sagt ihr Blick, auch dieses Wort kenne ich schon auf Deutsch.
Christian, ihr Freund, hockt wie benommen neben ihr auf der Couch. Er wirkt so, als ob er etwas gegen den soeben gefallenen Entschluss einwenden wollte. Er schaut durch den Raum. Zehn Quadratmeter, ein Regal, eine Kochplatte, zwei Kästen und ein Sofa, das sie abends ausziehen, um darauf zu schlafen. Eine Tür führt zur Dusche, die andere raus auf den Gang. Dort hängt ihre nasse Wäsche auf einem Ständer, den sie schon ein paar Mal verschoben haben, da es regnet und dann von der Decke tropft. Christian schweigt.
Später spazieren sie durch die Stadt, halten Händchen. Von den alten Bürgerhäusern bröckelt der Verputz. Lugosch, so heißt die Stadt im rumänischen Banat, ist reich an K.u.k.-Architektur. 51.000 Einwohner lebten hier kurz nach der Wende. Heute, knapp 25 Jahre später, sind der Stadt noch 37.000 Bewohner geblieben.
Ballast und Paläste.
Andrea ist so zierlich wie scheu. 19 wird sie in einem Monat und hat, wie sie nach und nach erzählt, einiges durchgemacht. Die Mutter ging früh ins Ausland arbeiten, Andrea gab sie ins Internat, wo die Erziehungsmethoden auch Jahre nach dem Systemsturz noch immer im Sinne Ceauşescus waren. Vom Vater hört Andrea selten, alle paar Wochen ein paar Minuten Plaudern am Telefon.
„Da siehst du, dort drüben die Paläste“, sagt sie auf einmal aufgeregt. Es sind kleine Schlösser mit Zinnen und Türmchen, kitschig in Prinzessinen-Rosa und Kaiser-Gelb bemalt, die sie meint. „Die gehören alle Leuten, die im Ausland arbeiten. Spanien, Italien, England.“ Ganz langsam spricht sie die Namen der Länder aus, so als glichen sie einer einzigen Verheißung. Bloß, die Paläste sind verwaist, ihre Besitzer schuften in der Ferne und geben den Zurückgebliebenen auch in ihrer Abwesenheit das Gefühl, zu den Verlierern zu zählen.
„Ich wasche ab und putze in einem Restaurant. Für 150 Euro im Monat“, sagt Andrea, „früher habe ich auch Nachtschichten in einer Fabrik gemacht, da gab es 250 Euro. Was ist denn das für ein Leben?“ Darüber, dass sie auch schon Tage nur Tee trank, Brot aß und den Hunger irgendwann vergaß, sagt sie nichts.
Zwei Stunden vor der Abfahrt packt sie ihre Sachen. Christian, der Freund, schweigt noch immer. Wagt nicht zu fragen, ob und wann sie sich wiedersehen werden. „I‘ll be back“, steht auf einem orangen Sack, oben auf dem Kasten. Verteilt vor Tagen an die Wiener Haushalte, gelandet hier in Rumänien als Mitbringsel einer Freundin.
Am Busbahnhof liegen Hunde träge in den Regenlachen, springen nur auf, wenn die Chauffeure durchbrausen, um im letzten Moment den Schlaglöchern auszuweichen. Hier trifft die Provinz auf die Welt. Im Warteraum, wo sich die Luft vor lauter Zigarettenrauch schneiden ließe, preisen Schautafeln mögliche Destinationen an. München, Amsterdam, Madrid, Stockholm, London, Liverpool – einmal eingestiegen und 48 Stunden später ausgespuckt am anderen Ende des Kontinents. Von hier brechen keine Urlauber auf, sondern die Getriebenen der Globalisierung.
Wenn „Euro-Waisen“ weinen.
Mütter weinen, winken ein letztes Mal durch die Fenster der Busse und schauen auf ihre Kinder, die an den Armen von Großmüttern und Großvätern ziehen. Mehr als drei Millionen Rumänen haben ihr Land seit der Wende verlassen – viele für immer, andere auf viele Wochen und Monate, nur unterbrochen von kurzen Besuchen in der alten Heimat. „Euro-Waisen“ nennt man die Kinder, deren Eltern im Ausland ein Auslangen finden müssen und große Teile des Erworbenen heimschicken. Hoffend, dem Nachwuchs durch die damit finanzierte Ausbildung ein solches Schicksal zu ersparen. Auch für Andrea wird es Zeit. Sie umarmt Christian, drückt ihn fest an sich, löst sich aber bald, steigt ein, zeigt dem Fahrer ihr Ticket und wartet, dass es losgeht. Elf Stunden wird der Bus für die 600 Kilometer bis Wien brauchen. Immer wieder stehen bleiben, um weitere Passagiere aufzunehmen, die Zulieferbusse aus anderen Teilen Rumäniens herangekarrt haben. Auf den Websites der Betreiber zeigt sich, dass Minibusse selbst aus den hintersten Orten der Karpatentäler Menschen zu den großen Busbahnhöfen in Temeschwar und Arad bringen, von wo die Doppelstockwagen in Richtung Westen aufbrechen. Ein feinmaschiges Netz weiterer Busse stellt dort wiederum die Verteilung der menschlichen Arbeitskraft bis in die kleinsten Dörfer sicher.
Regen prasselt gegen die Scheiben. Der Bus fährt durch die sich leerenden Dörfer, durch ein sich entvölkerndes Land. Vor der Grenze zu Ungarn dann die erste Autobahn. Ebenso leer. Von der EU finanziert, neben Firmenansiedlungen platziert. Eine Dame geht mit einem Plastiksackerl durch die Reihe. Jeder wirft eine Zwei-Euro-Münze hinein und scheint mit dem Prozedere vertraut zu sein. „Für die ungarischen Zöllner“, sagt sie auf Nachfrage verwundert, „damit die nicht das ganze Gepäck kontrollieren und wir Stunden verlieren.“
Wie Hennen beäugen die Frauen Andrea, das Küken in ihren Reihen. Seit Jahren fahren sie nach Österreich oder Deutschland, wo sie putzen und bügeln, aufwischen und abräumen, Alte versorgen und Babys betreuen. „Früher war da Wehmut, jedes Mal, wenn ich gefahren bin“, sagt eine, „heute ist es Routine und ich schaue nicht einmal mehr aus dem Fenster.“ Ihre alte Heimat haben sie so Stück für Stück und Fahrt für Fahrt mehr verloren. Ihre neue oft bis heute nicht gefunden. Auch, weil sie dort mehr geduldet, als geliebt werden. Die Krise macht sich bemerkbar, Gewerkschaften warnen vor Ausbeutung und Lohndumping. Denn, wer hier in Rumänien 300 Euro verdiente, wird es in der Ferne selten wagen, auf Punkt und Beistrich die Einhaltung von Kollektivverträgen zu verlangen. So kommt es zur Verdrängung der Billigen durch die Billigeren – die noch dazu oft besser ausgebildet sind. Und zum Umstand, dass in Österreich noch nie so viele Menschen einen Job hatten, gleichzeitig aber auch die Arbeitslosigkeit einen Höchststand erreicht.
Andrea ahnt von all dem nichts. Sie weiß bloß, dass Österreich ihre Chance ist. Vielleicht die beste, die sie kriegen kann. Ihre Mutter arbeitet dort, Freundinnen kamen auch her. „Irgendwie muss es gehen“, sagt Andrea, „ich kann putzen, aufräumen, aber am liebsten würde ich mit Kindern arbeiten.“ Später, als der Regen in Ungarn zu Schnee wird, lacht sie selbst noch wie ein Kind über den Karate-Klamaukfilm, der nun im Bus läuft. Es sind unbeschwerte Momente, in denen sie nicht voller Ungewissheit aus dem Fenster starrt, so als sähe sie dort draußen schon ihre Zukunft.
Die Männer im Bus sind wuchtige Kerle, gewohnt, hart anzupacken. Beim Stopp hinter Szeged haben sie ordentlich zugelangt, die Teller mit Pörkelt rasch hinuntergewürgt, damit sich vor der Weiterfahrt noch zwei, drei Zigaretten ausgehen. Dabei reden sie von den Baustellen, auf denen sie morgen wieder schuften werden, berichten von Vorarbeitern, die schon mal den Lohn schuldig bleiben und Chefs, die bei Beschwerden schnell mit Entlassung drohen.
Vier Stunden vor Wien. Der Verkehr wird dichter, der Unterschied zu Rumänien größer. Waren dort die Straßen leer und standen Kreuze an deren Rand, hat sich der Bus zäh seinen Weg hinein in die Welt gleißender Lichter und wuchtiger werdender Werbeplakate gebahnt. Die Frauen im Bus reden hingegen von Ceauşescu, dessen Sturz sie auf die Straße brachte. „Nichts war damals gut, aber wir hatten zumindest Arbeit, die Fabriken waren in Betrieb und wir unser kleines Glück.“
Anfang und Ende in Erdberg.
Kurz vor der Grenze telefoniert Andrea mit der Mutter. Erfährt, dass sie nicht bei ihr bleiben kann. Bei der Freundin einer Freundin würde sie aber unterkommen können – für den Anfang zumindest. „Nehmen, was kommt“, sagt sie selbst.
Zuletzt waren 54.100 gebürtige Rumänen in Österreich beschäftigt – fast 50 Prozent mehr als noch 2012. Viele von ihnen stiegen wie jetzt Andrea unter den Brücken der Südosttangente aus dem Bus. Das erste, was sie dort in Erdberg sahen, waren Container, in denen die Kassen des Busbahnhofs untergebracht sind und einen Würstelstand. „Weltstadt Wien“, klebt dort drauf. Es sind die Tatkräftigsten und Mutigsten, die kommen und trotzdem nun wie Andrea verloren am Ausgang stehen.
Erschienen in NEWS 05/2015