Den Krieg hätte er fast verpasst. Den Sieg verschlafen. Und den dunkelsten Tag seines Lebens gern vergessen. Mickey Dorsey ist einer der letzten lebenden Befreier eines heimischen Konzentrationslagers. Und ein Mann mit einer besonderen Eigenschaft
Der Mann, der uns zurück in die Vergangenheit führt, wohnt inmitten eines Südstaaten-Idylls. Ein stattliches Holzhaus, eine weiß getünchte Veranda, eine stolz drapierte US-Flagge davor. Mehr „Fackeln im Sturm“- Flair geht fast nicht mehr.
Die Fahrt hierher führt erst über Brücken, dann durch tiefe Wälder und endet schließlich auf einer Insel. Direkt am Atlantik, unweit der Hafenstadt Charleston im US-Bundesstaat South Carolina gelegen, hockt Mason Dorsey entspannt in einem Schaukelstuhl. Seine Nachbarn sind wohlhabend und meist unterwegs. So findet Dorsey, der 90 ist, aber jünger und agiler erscheint, die Ruhe, die er braucht. Und genug Zeit, Besuch aus „Austria“ zu empfangen. Dem Land, das ihn einfach nicht loslässt. Da mögen 70 Jahre vergangen sein, seit er als schnittiger Sergeant der 71. Infanteriedivision der 3. US-Armee den Inn überquerte. Für Dorsey fühlt es sich an, als sei es gestern gewesen. Nun hat er sich fein gemacht für die Gäste aus Übersee. Die alte braune Uniform aus dem Kasten geholt, die Orden angelegt und sich gewundert, wie gut ihm das alles noch passt.
„Nennt mich einfach Mickey“, sagt Dorsey, „so riefen mich schon damals alle.“ Er setzt sein spitzbübisches Grinsen auf, wippt im Schaukelstuhl und wirft seinen Filmprojektor im Gehirn an. Die Szenen, die er abspielt, spannen sich über zwei Kontinente und ein ganzes Jahrhundert. Sie führen zu den tiefsten Abgründen unserer Geschichte. An Orte, deren Namen uns vertraut sind, aber auch an Plätze, von denen wir noch nie gehört haben. Sie bringen Ereignisse zum Vorschein, die verdrängt und vergessen schienen. Aber auch solche, die unser Leben, ob bewusst oder unbewusst, mehr prägen als seines. Und das gerade dieser Tage, an denen wir erinnern, dass vor 70 Jahren der Zweite Weltkrieg endete – und unser Land eine zweite Chance erhielt.
„Es war schon warm und sonnig, als Ende April, Anfang Mai 1945 unsere Division ins einstige Österreich reinfuhr.“ Mickey war Funker, Schütze und damit Teil einer Aufklärer-Kompanie. „Sie nannten uns die Augen und Ohren der Army. Als solche hatten wir vor unseren Kampftruppen zu sein und hinter den Linien des Feindes.“ Zu viert saßen sie in einem M8-Spähpanzer. Mit ihrer Einheit waren sie über Frankreich und Belgien bis tief ins Kernland des Dritten Reichs vorgedrungen. Hatten das ausgebombte Frankfurt gesehen, sich Kämpfe an der Isar geliefert und waren an nicht enden wollenden Flüchtlingskolonnen vorbeigezogen.
Was sie nach Europa gebracht hatte, war jedem der vier Männer von Anfang an klar. „Hitler. Die Diktatur. Die Bedrohung der Welt“, sagt Mickey, ohne zu überlegen. So gern Amerikaner mitunter dazu neigen, in Superlativen zu sprechen, so angebracht sind diese hier. Dabei hätte Mickey den Krieg, der sein ganzes Leben prägen sollte, fast verpasst.
„Die Zeitungen waren voll davon und ich wusste, dass es meine verdammte Pflicht war, mich freiwillig zu melden.“ Doch eine angeborene Fehlbildung der linken Hand, drohte Mickeys Pläne zu durchkreuzen. Nur ein Finger ist intakt, die anderen sind Stummel. Für die Armee Grund genug, ihn als untauglich abzustempeln. Egal ob Army, Marines oder Navy, überall lautete die Antwort: „No!“ – „Die Zurückweisung wurde zum Ansporn, ich fand schließlich doch eine Einheit, die mich zumindest für den Innendienst nahm.“ Mickeys Drang, es nun jenen zu beweisen, die ihm nichts zutrauten, war ins Unermessliche gewachsen. Am Schießstand zeigte er es ihnen. Rasch galt er als bester Schütze im 1.000 Mann starken Bataillon. „Sie prüften die Zielscheiben und konnten es nicht glauben. Ich, der Krüppel!“
Mickeys spitzbübisches Grinsen blitzt erneut auf, als er erzählt, dass sich seine Erfolge beim Morsen wiederholten und den Kommandanten klar wurde, dass er kriegstauglich ist. „Ich mag ein junger, naiver Bursch gewesen sein und von der Welt keine große Ahnung gehabt haben, aber mich durchzubeißen und dabei positiv zu bleiben, das verstand ich schon immer.“
Diese Eigenschaft hat ihm wohl auch geholfen, mit jenem Tag fertigzuwerden, der zum dunkelsten in seinem Leben werden sollte: der 4. Mai 1945. Vier Tage vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs, fünf Tage nachdem Hitler Selbstmord begangen hatte.
Es war ein Montag, und Mickeys Einheit war morgens auf dem Weg nach Wels in ein Feuergefecht geraten. Nach den Zerstörungen, die die Männer in Deutschland gesehen hatten, machte die damalige „Ostmark“ auf sie allerdings einen friedlicheren Eindruck. „Wir fuhren durch intakte Dörfer und kleinere Städte. Auf den Straßen waren kaum Menschen zu sehen, aber in den Geschäften gab es allerlei Waren. Aus den Fenstern der Häuser wehten zusammengeknüpfte weiße Betttücher. Ein gutes Zeichen.“
Und dann, völlig unerwartet, das Fanal. „Am Rande eines Dorfes begann ein Wald, in dem wir aus der Ferne etwas Eingezäuntes erkannten. Stacheldraht, vielleicht zweieinhalb Meter hoch, ein Eingang aus Holzpfosten, dahinter Hütten.“ Mickey schildert stakkatoartig, worauf keiner der Männer gefasst war. „Noch bevor wir uns näherten, war da dieser Gestank. Waren es Leichen? Verwesung? Exkremente? Alles zusammen? Niemand von uns hatte je zuvor etwas derart Grässliches gerochen. Dann sahen wir die Menschen. Wir hielten unser Gefährt an, ich stieg mit zwei anderen aus. Und blickte auf Gestalten, die Knochengerippen glichen. Männer, Frauen, Kinder, so abgemagert, wie es sich keiner vorstellen vermag.“ Mickey schaut nun kein einziges Mal auf, beschreibt monoton und in sich gekehrt weiter die Bilder, die vor seinem geistigen Auge solche Kraft entfalten. Ein Film Noir, der in seinem Kopf fast forward läuft und im Rückgriff auf Vergangenes kein Ende kennt.
„Die, die noch bei Kräften waren, krochen auf uns zu. Schlangen sich um unsere Beine, umarmten und küssten uns. Andere lagen einfach nur noch da. Regungslos. Dann schrie einer: Leichen, Berge davon!“
Die US-Soldaten hatten, ohne es zu ahnen, das KZ-Nebenlager Gunskirchen entdeckt. Das drittgrößte seiner Art und eines von 49 in der damaligen „Ostmark“. Bis zu 17.000 Häftlinge, von denen Tausende in den Tagen zuvor, auf Todesmärschen vom 50 Kilometer entfernten Konzentrationslager Mauthausen dorthin getrieben worden waren. Die Mehrheit der Gefangenen: ungarische Juden.
Daniel Chanoch, einer der Überlebenden von damals, erinnert sich wie Mickey an den Moment der Befreiung. „Es war das Ende eines Todesmarsches, der für mich fünf Monate zuvor in Auschwitz begonnen hatte. Nun waren die Wachen geflohen, die Amerikaner brachen das Tor auf. Ein Freund und ich tasteten uns mit kleinen Schritten hinaus. Wir waren dünn wie Skelette, von Läusen befallen, mit Typhus infiziert, trugen Fetzen und waren barfuß. Wir erreichten das erste Haus in der Nähe. Eine Frau öffnete, vielleicht 30 Jahre alt, mit zwei Kindern am Rockzipfel. Wir sahen einander argwöhnisch an. Doch dann sagte sie ,Kommt rein‘ und goss einen Teller Hühnersuppe ein. Das dürfte uns das Leben gerettet haben. Denn viele der anderen Freigelassenen, die wie wir sechs Jahre lang kein normales Essen mehr gesehen hatten, verschlangen den Proviant, den ihnen die Amerikaner gaben – und starben daran, da sie es nicht mehr gewohnt waren.“
In einem Brief, den Mickey Tage später seinen Eltern heimschicken würde, beschreibt er genau diese Szenen und erzählt von Bildern, die wohl nie mehr aus seinem Gedächtnis verschwinden werden.
Erst in den Jahren danach erschließt sich ihm die ganze Dimension des Grauens, die Logik der perfiden Vernichtungsmaschinerie der NS-Herrschaft. „Damals hatten wir keine Ahnung, noch nie von Auschwitz, Bergen-Belsen oder Mauthausen gehört. Wir waren einfache Burschen, die unvermittelt in den größtmöglichen Abgrund der Geschichte geblickt hatten.“
Allein mit dem eben Gesehenen, saßen die Männer schon Stunden später wieder in ihrem Panzer. Erreichten Wels, dann Sierning und Steyr. Mickey spricht die Namen der Orte aus, als seien es Nachbargemeinden von Charleston, seiner Heimatstadt. Während ihm das Kurzzeitgedächtnis mittlerweile den ein oder anderen Streich spielt und seine Ehefrau Irene liebevoll darauf achtet, dass es ihn nicht zu sehr im Stich lässt, ist seine Erinnerung an den Krieg so präsent wie am Tag, an dem er endete.
Diesen 8. Mai 1945 hätte Mickey fast noch in Gefangenschaft verbracht. Sein Spähtrupp hatte die Aufgabe erhalten, von Steyr bis nach Waidhofen vorzudringen, wo die Sowjets erwartet wurden. Doch dort, an der Ybbs, stand auch noch eine gesamte deutsche Armee. Die Heeresgruppe Süd des in Wiener Neustadt geborenen Generals Lothar Rendulic träumte mit ihren 800.000 unter Waffen stehenden Mann weiterhin von der „Verteidigung der Alpenfestung“.
Dies erwies sich zwar Tage später bereits als Schimäre, für die Gefangenennahme von Mickey und seinen Kameraden reichte es trotzdem. „SS-Männer in ihren schwarzen Mänteln stoppten uns. Betrachtet euch als festgenommen, sagten sie.“ Ein letztes Aufbäumen vor dem Untergang, ein Versuch, der Stunde Null zu entkommen. Vergeblich.
„Aber Waidhofen, so weit in den Osten Österreichs kam kein anderer Amerikaner außer uns, da die Enns ja die Grenze war“, sagt Mickey stolz. Mit den Feinden von gestern hat er sich längst ausgesöhnt. Mehrmals kehrte er mit Gruppen von US-Veteranen an Donau, Enns und Ybbs zurück, sah auch Wien, die Gedenkstätte Mauthausen, wohnte Mahnwachen bei und sprach immer wieder vor Schülern.
Mittlerweile ist er einer der letzten noch lebenden Befreier eines heimischen Konzentrationslagers. „Für Europa-Reisen bin ich nun schon zu schwach. Aber ich weiß, ihr habt gelernt, mit der Vergangenheit umzugehen, ohne sie zu verdrängen oder zu verleugnen. Genau dasselbe habe ich auch mit meinen Erinnerungen gemacht. Lange verfolgten mich die Bilder, bis ich begriff, dass ich sie mit Positivem überlagern muss.“ So wurde Mickey zu einem Mahner, einem, der nicht anklagt, aber auch nicht vergisst und sich ein Leben lang dafür einsetzte, dass die Bilder nie wieder Realität würden.
1946 kehrte er in die USA zurück, heiratete, gründete eine Familie und baute bald seine eigene Firma auf, die ihn reich machte. Heute sagt er: „All der Schrecken dieser Tage hat mich nicht gebrochen, sondern stärker werden lassen.“
Erschienen in News 18/2015