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Der lange Schatten von Srebrenica

20 Jahre nach dem schlimmsten Kriegsverbrechen seit Ende des Zweiten Weltkrieges dominieren Argwohn und Hoffnungslosigkeit. Aber es gibt auch Menschen, die den einstigen Feind nun lieben

Was erzählt man zuerst, die Geschichten der Lebenden oder die der Toten? Die, die Mut machen und hoffen lassen, oder jene, die zum Verzweifeln sind? Oder einfach das, was bei einer Fahrt in eine Stadt passiert, 20 Jahre, nachdem dort das schlimmste Kriegsverbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschehen ist?
Srebrenica ist ein Name, den ganz Europa kennt. Der Weg in diesen Ort führt durch ein enger werdendes, fruchtbares Tal. Anfangs sind da noch gut gefüllte Cafés, aus denen Balkan-Pop dröhnt. Bald aber häufen sich verlassene Häuser, ausgebrannte Höfe und unbestellte Felder. Lange Fahrzeugkolonnen werden am kommenden Samstag, dem 11. Juli, genau diese Straße nehmen. Mit Polizeieskorte hinaufrasen bis zur Gedenkstätte von Potočari, wo die Würdenträger schließlich aus den dunklen Limousinen steigen. In einer, so hoffen sie hier, wird auch Bill Clinton sitzen. Damals, 1995, als das Unfassbare geschah, war er US-Präsident. 2003, als sie den Friedhof einweihten, war er zuletzt da. Kommt er diesmal, wird er zwischen Tausenden weißen Grabsteinen stehen, die sich den Hang hinaufziehen.

8.372 – diese Zahl ist gleich am Eingang zum Friedhof in Stein gemeißelt. So viele Buben und Männer wurden getötet. 13 Jahre war der jüngste von ihnen, 78 der älteste. Sie starben, weil sie muslimische Bosniaken waren. Ermordet von Soldaten der bosnischen Serben unter ihrem Anführer, General Ratko Mladić. Damals, vor 20 Jahren, in den heißen Juli-Tagen 1995, waren Tausende vor dem Sturm seiner Truppen auf die UN-Schutzzone geflohen. Und wurden vor den Augen niederländischer Blauhelm-Soldaten von ihren späteren Schlächtern abgeholt. Sie machten Srebrenica zum Synonym für das Grauen des Bosnien-Krieges, aber auch zur Chiffre für das Scheitern der Weltgemeinschaft. Deren Wegschauen und Kalmieren, deren Ignorieren und Lamentieren. Kalte Vergangenheit? Längst vergessen?

Im Dunkel der einzigen Pension Srebrenicas hockt kurz vor Mitternacht Senad. Er ist 34, spricht perfekt Englisch, hat Wirtschaft studiert, wirkt weltgewandt. Hier ist er der Nachtportier für 150 Euro Monatslohn. Während ein paar Kilometer weiter, in der mehrheitlich von Serben bewohnten Nachbarstadt Bratunac, die Lokale brechend voll sind, in einem gar das Porträt von Ratko Mladić neben dem von Putin an der Wand hängt, ist Srebrenica gespenstisch leer. „Ja, so ein Völkermord hat Folgen“, sagt Senad und unternimmt erst gar nicht den Versuch, seine Bitterkeit zu verbergen. „Hier ist alles tot. Auch jene, die damals überlebt haben, nur eben innerlich.“ Bis zum Sonnenaufgang wird Senad Dienst machen, die wenigen Gäste schlafen längst, voll belegt ist die kleine Pension ohnedies nur einmal im Jahr, rund um den Gedenktag.

„Meine Tage sind immer gleich“, sagt Senad, „ich gehe heim, lege mich für ein paar Stunden hin, stehe auf, werfe, wie alle hier, ein wenig Geld in die Spielautomaten, und setze mich auf einen Kaffee mit einem Freund, dem Serben.“ Er, der Muslim, und sein Freund, der Serbe. Ist das der erste unerwartete Lichtstrahl dieser Geschichte? Senad schüttelt den Kopf. „Es reicht zum gemeinsam Zeit Totschlagen, aber ich traue ihm nicht. Wie auch? Mein Vater liegt dort unten auf dem Friedhof. Damals, als die Serben die Stadt eroberten, konnte er fliehen. Er war einer der Tausenden, die glaubten, die Blauhelme würden ihn schützen. Ein Irrtum. Die Serben folterten ihn, seine Leiche mit der Kugel im Kopf, wurde erst sechs Jahre später gefunden.“ Nun schaut Senad starr gegen die Wand. „Glaubt mir, nach so was klappt das nicht mehr mit Freundschaft.“

Der nächste Tag: Srebrenica im Sonnenlicht. Hilfsorganisationen und Staaten sollen viel Geld in die Stadt gepumpt haben. Zu sehen ist davon wenig. Etliche Häuser gleichen Ruinen, andere tragen Einschusslöcher, als hätten die Kämpfe erst kürzlich geendet. Bloß die Moschee ist frisch gestrichen und strahlend weiß. Fabriken, eine Silbermine, ein Heilbad, Hotels, Touristen: Vor dem Krieg war Srebrenica die drittreichste Stadt Bosniens. Heute lebt vielleicht noch ein Viertel der einst 30.000 Einwohner hier. Es sind die Überlebenden und die Zurückgekehrten, zur Hälfte Serben, zur Hälfte Bosniaken, die einander argwöhnisch belauern und viel Kraft darauf verwenden, sich im Alltag aus dem Weg zu gehen.

Beim Gedanken an die Appelle, die die aus aller Welt anreisenden Politiker kommenden Samstag in die Fernsehkameras richten werden, vergräbt Elvir sein Gesicht in den Händen. „Jedes Jahr das selbe Schauspiel, sie reden von Aussöhnung, anstatt dafür zu sorgen, dass unser Land funktioniert und wir Arbeit haben“, sagt er. Der Krieg riss ihn vor 20 Jahren aus der Kindheit. Als alles anfing, war er 13 und lebte mit den Eltern und den Geschwistern hoch über Srebrenica in den Bergen. Das Haus von damals steht noch, aber der Vater und die zwei Brüder sind tot. Seine Mutter kauert in der Wiese und weint, sobald der Sohn die Geschichte erzählt, die ihre eigene ist. Sie handelt von der Weisheit des Vaters, der ahnte, dass die Blauhelme sie nicht schützen würden. Von der Flucht in die Wälder und einem fernen Ziel: die freie Stadt Tuzla, über 100 Kilometer und unzählige Täler weiter. „78 Tage marschierten wir, aßen Schnecken, Blätter, Pilze, versteckten uns vor Scharfschützen und verloren einander.“ Elvir ist ein kräftiger Kerl mit einem gutmütigen Blick. Nachts, sagt seine Freundin später, wacht er oft auf, zuckt zusammen. Sie hilft ihm dabei, ein Buch über das Erlebte zu schreiben. Wenn er ihr dann davon erzählt, wie er sich mit den Leichen Erschossener zudeckte, um nicht selbst erschossen zu werden, müssen sie beide weinen.

Untertags arbeitet Elvir unten im Tal bei der Post. Da Srebrenica zur serbischen Teilrepublik Bosniens gehört, ist er dort der einzige Bosniake unter lauter Serben und froh, abends wieder hinauf in sein Haus zu fahren. „Viele dort unten waren damals dabei. Auf Youtube sind noch die Videos, in denen sie an der Seite von Ratko Mladić herumgelaufen sind. Heute schanzen sie sich die Jobs zu, und wir bleiben auf der Strecke.“

Wie unter einem Brennglas zeigt sich in Srebrenica die Fehlkonstruktion Bosniens. Der Vertrag von Dayton, der vor 20 Jahren nach 100.000 Toten den Krieg beendete, schuf ein Land aus zwei Teilrepubliken, zehn Kantonen, drei Staatspräsidenten und 160 Ministern, die sich einzig selbst gut dienen, dem Land aber längst nur noch ein Hemmschuh sind.

Bosnien, das ist der in eine Verfassung gegossene Versuch, zu verhindern, dass Opfer und Täter von einst erneut in Konflikt geraten. Resultat ist ein Parallelleben von Serben und Bosniaken, das schon in der Schule beginnt.
Zwar werden Srebrenicas Kinder grundsätzlich gemeinsam unterrichtet, sobald es aber heikel wird – also in Geographie, Geschichte und der Landessprache – teilt man die Klassen. So kommt es, dass serbischen Kindern eine völlig andere Version der Ereignisse in ihrer eigenen Stadt beigebracht wird als den bosniakischen. Die einen hören allein vom Grauen des Massakers, die anderen, dass muslimische Verbände schon zuvor serbische Dörfer in Schutt und Asche legten und der Westen dies damals gern ausblendete, weil es nicht ins Bild des bösen Serben passte. Beides ist wahr, doch für sich allein erzählt, ergibt es kein Gesamtbild. Und so verwundert es auch nicht, dass die Maturanten auf die Frage, ob es vorstellbar sei, jemanden aus der anderen Volksgruppe zu heiraten, nur verwundert bis ablehnend den Kopf schütteln.

Die einzigen zwei, die es trotzdem taten, werden wie seltene Schätze durch die sich nach Versöhnung sehnende Weltpresse gereicht. Entsprechend skeptisch ist Dušica, die Serbin, als wir vor ihrem Holzhäuschen stehen. Dass das Haus der von der Salzburger Ex-Landesrätin Doraja Eberle betriebene Verein „Bauern helfen Bauern“ errichtete, wird zum Türöffner.
Und schon kommt uns Jusuf entgegengerannt. Der Bub, dreieinhalb Jahre alt, ist der erste Beweis, dass Liebe doch stärker sein kann als Argwohn oder gar Hass zwischen den Volksgruppen. Almir, der Vater, ist Bosniake und hat durch die Kugeln der Serben sechs Onkeln verloren. „Ich müsste aber schon dumm sein, würde ich deshalb auf ein ganzes Volk schließen“, sagt er und führt stolz raus in den Stall. Er will uns etwas zeigen. Vor einiger Zeit waren er und seine Dušica im bosnischen Fernsehen bei einer Show, die sich „Mein größter Traum“ nennt. „Als der Moderator sagte, dass wir in Srebrenica leben, staunten alle und schimpften hinter vorgehaltener Hand.“ Im Ort selbst war es ähnlich, böse Blicke waren noch die gelindere Form der Ablehnung. „Gerade meine Familie war am Anfang schockiert, aber als sie sahen, dass Dušica anders ist, besserte es sich.“ Die beiden erzählten damals im Fernsehen von ihrem Leben, von dem wenigen, was sie haben, und dem Traum, den sie sich mit dem Geld erfüllen möchten. Das Publikum war angetan und vergönnte ihnen den Gewinn. Und der steht nun in Form einer Kuh im Stall. „Die gibt Milch, die wir auch verkaufen können, und vielleicht bleibt irgendwann genug, dass es für ein zweites Kind reicht.“

Wie zerbrechlich aber selbst die zartesten Formen der Versöhnung sind, zeigt sich auf einer buckligen Asphaltfläche, die so etwas wie den Hauptplatz von Srebrenica bildet. Kein Mensch ist zu sehen, ab und zu ruckelt ein Zweier-Golf vorbei, später huscht der Imam hoch zur Moschee. Einzig im Marlboro-Café wartet jemand, aber der wird das vereinbarte Treffen fast bereuen. Er ist Schlagzeuger und gehört der lokalen Rockband Afera an. Die hat eine Hymne auf Srebrenica verfasst. Der Song ist eine melancholische Abschiedserklärung an das, was die Stadt einmal war, damals, als es Jugoslawien noch gab und keiner je erwartet hätte, dass dieses unter Leichen enden würde. Im Video zum Song tauchen alte Ansichtskarten auf, die eine wohlhabende Stadt zeigen. „Deinen Namen zu erwähnen, bringt kein glückliches Ende“, singen die vier dazu. „Geblieben sind Gespenster“, sagt der Drummer nun. „Die Mörder von gestern leben weiter unter uns. Einer, von dem jeder weiß, dass er bei den Tschetniks war und der Blut an seinen Händen hat, ist heute der einzige Installateur der Stadt. Hast du also einen Wasserrohrbruch, darfst du den Mann, der vielleicht deinen Vater oder Bruder ermordet hat, auch noch bezahlen.“ Umso erstaunlicher ist das, wofür der Schlagzeuger und seine drei Bandkollegen daher stehen.
Einer ist wie er Bosniake, die anderen zwei Serben. „Wir sind Freunde, und nur das zählt.“ Aber schon wenige Momente später kommt die Angst vor der eigenen Courage. „Schreibt lieber nicht meinen Namen“, sagt der Drummer nun, „denn sobald was über uns erscheint, fangen Wildfremde mit den Beschimpfungen und Drohungen auf Facebook an. Verräter, Serbenfreund ist da noch das Harmloseste, das brauch’ ich nicht.“

Srebrenica bleibt in der Vergangenheit gefangen, die Wunden sind kaum verheilt. Was der Stadt – und ganz Bosnien – fehlt, ist die Perspektive. Dort, wo eine läge, führt heute Kopfsteinpflaster hin, das noch aus der Monarchie stammt. Inmitten dichten Waldes, hinter einem Absperrzaun, stehen riesige Rohbauten. Eine ganze Hotelanlage sollte entstehen, die einzigen arsenhaltigen Quellen Europas, die hier entspringen, würden als Heilressort genutzt werden. Doch dann kam der unerwartete Baustopp. Auf Anordnung aus der Hauptstadt der serbischen Teilrepublik, die dem muslimischen Bürgermeister den Erfolg und den damit erwartbaren Aufschwung der Stadt nicht gönne.

Selbst unten, an der Gedenkstätte in Potočari, wo bei der großen Zeremonie am kommenden Samstag weitere exhumierte Leichen die letzte Ruhe finden sollen, scheitert die Versöhnung. Zwei junge serbische Journalisten der Internetplattform Vice sind angereist. Es sind aufgeschlossene, weltoffene Kollegen, die die Vergangenheit ihres Landes kritisch sehen. Voll Demut tragen sie sich in das Besucherbuch ein, schreiben einen Absatz über Unterstützung und Hoffnung. Schöne Worte, die Gräben überwinden. Unterzeichnet mit ihren Namen und ihrem Wohnort, Belgrad. „Wir sind dann eine Runde gegangen, haben uns alles angesehen“, erzählt Petra Živić. „Als wir nach 20 Minuten zurückkehrten, sahen wir noch einmal ins Gästebuch. ,Wir kriegen euch trotzdem!‘, stand nun unter unserem Eintrag.“ Sie schüttelt den Kopf. 20 Jahre sind vergangen, oder eben nur 20 Minuten.

Erschienen in NEWS 25/2015

Das VIDEO zur Reportage

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