Trotz Grenzzauns strömen täglich weiter Tausende Flüchtlinge nach Ungarn. Brutale Schlepper mit Verbindung nach Österreich machen so Millionen. Eine Reportage von Europas Scheitern, vier Autostunden hinter Wien
Der Tag, der bei Tempo 200 enden wird, beginnt schleppend, stotternd und staubig. Ein voll besetzter, klappriger Bus, der im Morgengrauen Serbiens Hauptstadt Belgrad verlassen hat, hält auf einem unasphaltierten Parkplatz. Männer und Frauen mit Kindern in den Armen steigen aus, husten, blicken sich ratlos um. Sie sehen ein Dutzend Zelte, in denen Menschen schlafen. Eine Bretterbude, in der Burger verkauft werden, daneben zwei Minibusse mit laufendem Motor. „Horgosch, border”, ruft einer der Fahrer wie ein Marktschreier und deutet auf sein lädiertes Gefährt, „only 5 Euro.” Die Sonne brennt unerbittlich vom Himmel, bald wird es 38 Grad haben und die gerade Angekommenen zögern nicht lange.
Amjad ist einer von ihnen. In Syrien war er DJ, Musikproduzent und Personalmanager. Er ist 24, schlau, locker und lebenslustig. Er floh vor dem Krieg in seiner Heimat in die Türkei. Setzte von dort auf einem Schlauchboot fünf Stunden auf die griechische Insel Symi über. Schlug sich über Mazedonien bis nach Serbien durch, zahlte auf dem Weg schon 2.500 Euro an Schlepper. Heute ist Tag 11 seiner Flucht. Er wird zu seinem schlimmsten werden. Als sich der Bus in Bewegung setzt, trennen ihn nur noch zwölf Kilometer von seinem wichtigsten Ziel: der EU. Zwanzig Fahrtminuten später, ist der Lenker des Busses um 180 Euro reicher und Amjad befällt die Angst. Ein serbischer Polizeiwagen parkt neben einer Bahnlinie in diesem Horgosch, dem letzten Örtchen vor der Grenze. Bullige Beamte haben sich daneben aufgepflanzt. „Go, go! Hungary”, deuten sie in Richtung der Geleise. Erleichterung. Durchgereicht, wie in all den Ländern zuvor. Der Tross setzt sich in Bewegung.
Die neue Völkerwanderung
Europa erlebt in diesem Sommer etwas, das den meisten nur von Bildern aus Geschichtsbüchern bekannt ist. Etwas, das bei manchen Ängste auslöst, andere apathisch werden lässt, bei einigen Wut verursacht und bei vielen Mitgefühl, aber auch Ohnmacht. Es sind Fremde, die da kommen. Es sind viele und es hört nicht auf. Erst stammten die Bilder vom Mittelmeer und sie zeigten Holzkähne mit Menschenmassen darauf. Es folgten Nachrichten von Hunderten Ertrunkenen. Dann waren da griechische Inseln, die so gar nicht dem Ferienidyll glichen, sondern Horten des Elends. Und schließlich stand ein verlassener Kühlwagen auf der Ostautobahn bei Parndorf. Darin lagen 71 Leichen.
Was machen diese Bilder aus uns? Aus Europa? Aus dem, wie wir unsere Zukunft sahen?
Amjad trägt eine rote Short, ein weißes T-Shirt, eine verspiegelte Sonnenbrille und ein paar Geheimnisse mit sich, die sich lüften werden. Ist er der typische Flüchtling? Oder ist es eher der Mann in der abgewetzten Kleidung, der auf den Geleisen ein paar Meter vor ihm marschiert? Die voll verschleierte Frau mit ihren vier Kindern hinter ihm? Das erst zwei Monate alte Baby aus der Gruppe, das im Schlauchboot fast ertrunken wäre und das Amjad nun trägt? Sind es nur die Syrer, die die Mehrheit der Flüchtenden ausmacht, oder auch die Afghanen, deren Heimat kaum sicherer ist? Was ist mit all den armen Menschen aus Bangladesch und Pakistan? Auch sie sind längst Teil dieser Kolonne, die gestern, heute und morgen auf diesen Bahngleisen bei drückender Hitze und wohl bald auch im strömenden Herbstregen in Richtung EU-Außengrenze stapft.
Manche schnaufen, keuchen, andere laufen, rasten im Schatten. Kinder weinen, Frauen trösten sie, Männer starren auf ihre Smartphones. Google Maps zeigt ihnen, dass die schnurgerade verlaufende Bahnstrecke, bald Ungarn erreicht. „Fingerabdrücke? Nehmen sie dort Fingerabdrücke?”, lautet unablässig die Frage je näher die Grenze rückt. Manche sind überzeugt davon, andere vom Gegenteil. Doch allen ist klar, dass diese ihre weiteren Pläne zunichte machen würden. Denn Flüchtlinge haben ihren Asylantrag im ersten EU-Staat zu stellen, den sie erreichen. Die Fingerabdrücke werden in eine Datenbank eingespeist. Reist der Flüchtling weiter und sucht in einem anderen EU-Staat um Asyl an, ist er gemäß der Dublin-Verordnung ins Erstantragsland abzuschieben. So weit die Theorie. In der Praxis wird all das, mit jedem Tag, der weitere tausende Flüchtlinge bringt, zur Makulatur.
Der Wall der Abschottung
Am Horizont der pannonischen Ebene taucht in der Sonne etwas Blitzendes auf. Stacheldraht, drei Rollen übereinander, rasierklingenscharf. Es ist der umstrittene Zaun, den Ungarns Premier Viktor Orbán entlang der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien errichten ließ. Er bildet die erste Linie eines Walls, den bald ein vier Meter hoher weiterer Zaun ergänzen soll. Schon ist vom Einsatz so genannter Grenzjäger die Rede, gar von der Armee, einem Schießbefehl und Internierungslagern. Orbáns Leute und die rechtsextreme Jobbik-Partei überbieten sich im Wettstreit um Ideen für den menschenrechtswidrigsten Umgang mit den Ankommenden.
Amjad hat von all dem gehört, er checkt ständig die Facebook-Gruppen, in denen Syrer, die auf der Flucht schon weiter sind, ihre Erfahrungen posten, Ratschläge geben und Nachrichten verbreiten. Bloß diese änderten sich zuletzt im 24-Stunden-Rhythmus. Noch vor Tagen kletterten Flüchtlinge über den Zaun, zwängten sich unter ihm durch, verletzten sich, rissen sich Zentimeter lange Wunden in die Haut. Nun stapfen sie unbeirrt auf ihn zu. Der Zaun endet an beiden Seiten des Bahndamms, auf dem teilnahmslos dreinblickende ungarische Polizisten stehen. Sie verfolgen seit Stunden die Völkerwanderung vor ihren Augen und teilen den Neuankömmlingen bloß mit, noch ein paar hundert Meter weiter entlang der Geleise zu marschieren. „Geradeaus, dann gibt es Wasser”, sagen sie, als wären sie Ordner auf einem Festival und nicht Bewacher einer EU-Außengrenze.
18.524 Flüchtlinge in sieben Tagen
Bis vor einer Woche ließ Ungarn den Bahndamm, und damit die Lücke im Zaun, abriegeln. Nahm jene fest, die versuchten, ihn als Gruppe zu durchbrechen. Und kapitulierte, ähnlich wie zuvor die Polizeikräfte an den Grenzen von Mazedonien und Serbien, vor der schieren Zahl derer, die da kommen. 18.524 Migranten registrierte Ungarn an dieser Grenze allein in den vergangenen sieben Tagen bis Donnerstag.
„Wir wissen nicht, wer da aller kommt”, sagt der Sprecher der Grenzpolizei Szabolcs Szenti, „die wenigsten haben Papiere, die meisten behaupten sie seien Syrer, selbst Schwarze aus Afrika. In der Türkei werden von Schleppern syrische Pässe um 200 Euro verkauft, also zählt das nicht viel.”
Und so löst sich in der flimmernden Hitze der letzten Sommertage inmitten der ungarischen Steppe das Schengen-Abkommen in Luft auf. Denn während sich nur ein paar hundert Meter weiter, am Autobahngrenzübergang Urlauber drei Stunden bis zu ihrer Abfertigung stauen, ist die grüne Grenze ungehindert passierbar. Vorerst.
Schon ein paar Meter weiter, im Schatten der ersten Bäume, befällt die Gruppe um Amjad Zweifel. „Was, wenn sie doch unsere Fingerabdrücke nehmen?”, fragt er und blickt in bange Gesichter. „Und was, wenn es nur ein Gerücht war, dass Deutschland keine Syrer nach Ungarn zurückschickt?” Fast alle nennen München, Hamburg oder Berlin als Ziel, auch wenn keiner von ihnen je zuvor in Europa war. Familie, Verwandte, Freunde seien schon dort, Arbeit gebe es und auch gute Sozialleistungen. Manche würden auch mit Österreich vorliebnehmen, das sei auch „ein gutes Land. Alles, nur nicht Ungarn.” Jener Staat, der noch vor einer Stunde, in Serbien, das Zwischenziel ihrer Träume war. Junge Burschen kommen aus der umgekehrten Richtung die Geleise entlanggelaufen. Vermelden, dass die Ungarn doch Fingerabdrücke nehmen und schüren so Verunsicherung. Was jetzt?
Vorne, an der Sammelstelle, von wo die Burschen kommen, wird geflunkert und gelogen. „Wir bringen euch in ein Lager. Ihr bekommt zu essen und zu trinken. Wir registrieren euch. Aber keine Angst, keine Fingerabdrücke. Und dann, nach einer Nacht, könnt ihr gehen, unsere Asylzentren sind voll, dort ist kein Platz. Also zieht weiter”, erklärt ein Polizist den ankommenden Flüchtlingen. Darauf angesprochen, heißt es von den Grenzpolizei, dass man „das mit den Fingerabdrücken” eben so sage, um keinen Aufruhr unter den Flüchtlingen zu provozieren, es habe schon Gewalt gegen Beamte gegeben, aber „natürlich werden Fingerabdrücke genommen.”
Wo die Schlepper lauern
Amjad wird diese Sätze nie zu hören bekommen. Mit seiner Gruppe klettert er den Bahndamm hinunter. Reagiert nicht auf die Pfiffe der Polizisten. Sprintet durch das Kukuruzfeld. Die Pfade durch den angrenzenden Wald sind ausgetreten, überall liegen Jacken, Rucksäcke, Dokumente und andere Habseligkeiten, die sich bei der Flucht als hinderlich erwiesen haben. Zwischen Birken und Plantanen die erste Verschnaufpause. Rätseln über den weiteren Weg. Per WhatsApp werden Sprachnachrichten an Helfer geschickt. Per Google Maps festgestellt, dass nicht weit entfernt, an der Autobahn, eine Tankstelle liegt.
Und die wirkt auf jeden, der nur zufällig anhält, erst einmal räudig. Korpulente Kerle mit Stiernacken, kahlrasierten Köpfen, auffälligen Tätowierungen und Männerhandtaschen um die Schulter bevölkern sie. Sträunen herum, halten Ausschau. Wäre man nicht auf einer Tankstelle, es könnte auch der offene Vollzug einer Haftanstalt sein. Weiter hinten parken Luxuswagen, auffällig viele davon mit Wiener Kennzeichen. Erst wer länger verweilt, recherchiert, sich umhört und beobachtet, realisiert, dass dies der Hotspot der Schleppermafia ist. Bald wird klar, wer Capo und wer Handlanger ist, wer Zuträger und wer Abkassierer. Nicht weit von hier, im Ort Mórahalom, soll nach neuesten Erkenntnissen der ungarischen Polizei, auch jener Lkw seine 71 „Passagiere” aufgenommen haben, die einen Tag später an der A4 bei Parndorf nur noch tot im Laderaum lagen.
Sein Vater ist in Syrien Millionär
Amjad beschließt, sich von der Gruppe zu trennen, allein zu versuchen, sich bis zur Tankstelle durchzuschlagen. „Es ist besser so”, sagt er später, „zwei verschleierte Frauen, ein Baby, insgesamt neun Leute, das ist zu viel” Er erzählt, dass ihn noch mehr vom Rest der Gruppe unterscheidet, er homosexuell ist und die anderen das befremden würde. „Schau, Syrien war kein schlechter Ort, bevor alles kippte und die Amerikaner und Saudis es in Flammen setzten. In Damaskus gab es Schwulenclubs, eine Szene, Moslems, Christen, Atheisten, wir lebten friedlich zusammen. Klar, Assad war kein Engel, aber zum Teufel wurde er erst, als sie ihm die Macht nehmen wollten.”
Amjad entstammt einer reichen Familie, der Vater führte eine Firma, sie alle wohnten in einer Villa am Meer, die eine Million Dollar wert war. „Doch das ist vorbei. Nun will jeder weg. Selbst meine Eltern, die alt sind, werden noch flüchten, auch wenn sie dadurch alles verlieren.”
Immer mehr Gruppen von Flüchtlingen tauchen im Wald auf. Sie alle versuchen, der Registrierung zu entkommen. Und, wo immer sie auch Rast einlegen, pirschen sich örtliche Handlanger der Schlepper heran. „Budapest? Vienna? Germany?”, zischen sie. Tippen Zahlen, die von 250 bis 1300 reichen, in das Display ihrer Handys und halten sie den Flüchtenden entgegen. Gemeint sind Euro-Beträge und genommen wird nur Cash. Einer nähert sich einer Gruppe, spricht spärlich Englisch und will immer wieder ins Deutsche wechseln, das die Flüchtlinge nicht verstehen. „Sonst Polizei”, sagt er, als die Angesprochenen die 300 Euro pro Person für die Fahrt bis Budapest als zu teuer ablehnen.“Go! Go”, schreit er, „sonst Polizei.” Kriminelle, die mit der Polizei drohen, perfider geht es kaum. Doch den Flüchtlingen wird bald klar, dass sie auf die ruchlosen Schlepper angewiesen sind , soll ihr Traum vom besseren Leben nicht hier, im ungarischen Lager, enden, ohne Aussicht, das Land verlassen zu können.
Im Auto der Schleppermafia
Okay, lasst mich mitfahren, sage ich. Es bildet sich eine Gruppe aus sechs Personen, jeder soll 250 Euro für die Fahrt nach Budapest zahlen. Dort, „no problem”, verspricht der Vermittler mitten im Wald, „train” oder ein weiteres „Taxi” nach Wien. Gedealt, aber Geld gibt es erst bei der Ankunft, so einer aus der Gruppe, der aus den Foren von all den Ausgesetzten entlang der Autobahnen weiß. Wir laufen auf den Parkplatz der Tankstelle. Dort lungern die Fahrer herum. Pfeifen nach uns wie nach ausgelaufenem Vieh. „You! Here!” Die Aufseher werfen den Lenkern die Schlüssel zu.
Unsere Gruppe wird auf zwei Fahrzeuge verteilt, eines, ein grüner Alfa, hat ein Wiener Kennzeichen. Der Fahrer, ein junger Bursch mit kahlrasiertem Kopf, stößt uns in den Wagen. Fährt mit quietschenden Reifen los. Beschleunigt. Rast mit 160 auf die serbische Grenze zu. Bremst ab, wechselt in einer Bucht auf die andere Fahrspur und prescht mit uns in Richtung Budapest. Im Auto fällt kein Wort. Er dreht serbischen Turbo-Folk auf. Beschleunigt auf 200. Zündet sich eine Zigarette an. Presst sich gegen das Steuer, nah an die Windschutzscheibe, als würde er so noch schneller. Und tippt kurze SMS in sein altes Handy. Er kommuniziert mit der Vorhut, die wie ein Abwehrschild vorausfährt, um Polizeikontrollen zu melden.
Er ist das kleinste Rädchen im Gewinde, steht auf der untersten Stufe der Hierarchie und ist nervös. Das Risiko, erwischt zu werden, ist gering, geschieht es dennoch, drohen ihm in Ungarn ein Schnellgericht und drei Jahre Gefängnis.
Immer wieder zucken alle zusammen, als er knapp auf Lkws auffährt. Er raucht, rast und tippt. Und fordert Geld, sobald der Verkehr dichter und die Stadtgrenze erreicht ist. „Jetzt Geld! Hier Budapest”, sagt er mit unverkennbarer Wiener Sprachmelodie. Gierig greift er nach den Scheinen. 50er und 100er, insgesamt zählt er 1.000 Euro, bevor er uns nach 170 Kilometern und einer knappen Stunde Fahrzeit auf dem Parkplatz eines Fastfood-Restaurants an der Stadteinfahrt rauswirft, „jetzt, go, go!”
Als Amjad später am Ostbahnhof eintrifft, ist er schockiert. Es ist Nacht, das Gebäude von der Polizei abgeriegelt. Davor lagern Tausende, kauern auf dem blanken Asphalt, schlafen auf Pappkartons. Unten, in der Passage, stinkt es erbärmlich. Kinder kreischen, Babys weinen, Männer brüllen. Es gibt acht Aufstellklos und zehn Wasserhähne. Dublin gilt, sagt Ungarns Regierung, wir setzen nur geltendes EU-Recht um, das die Ausreise ohne Schengen-Papiere verbietet. In etlichen von Europas Staatskanzleien ist man nun, wie schon beim Zaun, wieder einmal öffentlich empört und insgeheim nicht ganz unglücklich. Wären da nicht die bösen Bilder. Amjad schaut sich um. „Ist das Europa? Ich kannte so etwas bisher nur aus dem Fernsehen, aus Indien.” Amjad hätte genug Geld, aber die Hotels verweigern ihm, dem Illegalen, die Unterbringung. Der Tag, der staubig begann, endet für ihn auf einem Karton in der schmutzigen Unterführung.
Am Tag 12 seiner Flucht erwägt Amjad, sich ein Fahrrad zu kaufen und damit bis nach Österreich zu fahren. Oder doch noch 1.300 Euro zu zahlen und in einen der Lieferwägen einzusteigen. Die Schleppermafia, sie liebt solche Zustände. In Europa sind sie nun Alltag.
Erschienen in NEWS 36/2015