Zäune, Mauern, Grenzkontrollen. An der ungarisch-serbischen Grenze zeigt sich, was passiert, wenn eine nicht aufzuhaltende Masse an Flüchtlingen auf eine Barriere trifft. Eine Lehre für das, was kommt
Der Tag, an dem das vertraute Europa ein weiteres Stück fremder wird, beginnt im Nieselregen. Wir fahren auf der Ostautobahn in Richtung Ungarn. Der Grenzübergang Nickelsdorf ist gesperrt. Hunderte Flüchtlinge seien auf der Fahrbahn, vermeldet das Radio. In Richtung Deutschland stünden die Autos in Suben drei und am Walserberg eine Stunde im Stau. Was wie eine Nachricht aus der Vergangenheit klingt, ist unsere Gegenwart. Und sie setzt sich fort. Die Slowakei und Polen planen, erneut Grenzkontrollen einzuführen, heißt es. Dafür hätte der EU-Plan, die stetig wachsende Zahl an Flüchtlingen nach Quoten auf die Staaten zu verteilen, keine Chance. Die Gräben zwischen den Ländern seien einfach zu groß. Die politischen Eliten zu uneinig, die nationalen Egoismen zu stark und das Verständnis füreinander zu gering. Jahrelang priesen Politiker die Reisefreiheit als eine der wichtigsten Errungenschaften der EU. Sie sei ein Garant dafür, dass das Friedensprojekt Europa final sei.
Der Regen wird stärker. Auf Ö1 spielen sie Beethovens Neunte. Die Ode an die Freude, die Hymne Europas, die Unvollendete. Die Musik bringe die europäischen Werte Freiheit, Frieden und Solidarität zum Ausdruck, kann man auf der EU-Homepage nachlesen. Heute klingt es wie ein Abgesang auf dieses Europa.
Abends, im Einbruch der Dunkelheit, erreichen wir Röszke. Es ist das letzte ungarische Dorf vor der Grenze zu Serbien. Ein neuralgischer Punkt entlang der Balkanroute, auf der sich Flüchtlinge von der Türkei und Griechenland über Mazedonien und Serbien bis hierher durchschlagen. Ihre Zahl wuchs mit jedem Sommertag, der verging. Und damit die Ratlosigkeit in den Staatskanzleien. Über die Monate hinweg ließ sich beobachten, wie ein Land nach dem anderen angesichts der schieren Zahl derer, die da kamen, einknickte. Geltendes Recht ignorierte und jeglichen Versuch, die Ankommenden zu kontrollieren und gegebenenfalls zurückzuweisen, einstellte. Da die mehr als 280.000 Menschen, die seit Jahresbeginn auf dieser Route unterwegs waren, ohnedies nicht vorhatten, in einem der Länder zu bleiben, ließ man sie passieren. Bloß einer verfolgt einen gänzlich anderen Plan: Ungarns Premier Viktor Orbán. Er gibt die Rolle des widerspenstigen Prellbocks mit Eigeninteressen.
Eine Nacht, die Geschichte macht
An diesem Montagabend, der in die Geschichte eingehen wird, tritt das Experiment Orbán in die Zielgerade. Und das in Form eines gut inszenierten Medienereignisses. Polizisten reiten durch die Dämmerung der ungarischen Puszta. Halten immer wieder bereitwillig und posieren mit ihren Pferden für eine Heerschar an Fotografen. Als besonders beliebt erweist sich das Motiv mit den bewaffneten Soldaten im Hintergrund, direkt vor dem Zaun. Orbáns Zaun. Auf einer Länge von 175 Kilometern ist das vier Meter hohe Gebilde, mit spitzem Stacheldraht auf der Krone und drei Rollen scharfen Nato-Drahts davor, zum Symbol geworden. Die einen sehen darin Europas neuen Eisernen Vorhang, die anderen glauben, einen Bannwall als letzten Schutz des Abendlandes zu erkennen. Raum für Schattierungen bleibt da keiner.
Wer, wie Ungarns national-konservativer Premier Viktor Orbán, unablässig betont, der Retter des christlichen Europas zu sein, der hat die nahende Apokalypse zuvor kameragerecht zu inszenieren. Er muss dafür Sorge tragen, dass die „Invasion der Millionen von Muslimen”, vor der er warnt, sichtbar wird. Und dabei half Orbán ein Bahndamm. Über ihn rollten längst keine Züge mehr nach Serbien, dafür bahnte sich von dort ein nicht enden wollender Tross an Flüchtlingen seinen Weg über die EU-Außengrenze nach Ungarn. Auch die Tausenden Menschen, die nun in Österreich festsitzen, kamen über diese Geleise.
Und sie lieferten die Bilder, die Orbán brauchte. Der Ansturm, die Bedrohung, der Ausnahmezustand, all das baute sich Woche für Woche weiter auf, während die Lücke bewusst offen blieb. Der Zaun rechts und links davon wuchs nur langsam. Und mit ihm die Kritik an Orbán. Aus Berlin wie Wien tönte es, dass solch eine neue Mauer im Europa des Jahres 2015 nichts verloren habe. Erst als am vergangenen Wochenende allein in München 60.000 neue Flüchtlinge ankamen und Deutschland zu Grenzkontrollen zurückkehrte, wurde die Kritik merklich leiser. Und manch einer schien plötzlich heimlich zu hoffen, Orbán möge die letzte Lücke im Zaun, den Bahndamm, schleunigst schließen.
Als es soweit sein soll, parken Satellitenwägen entlang des 150 Millionen Euro teuren Zauns. Generatoren laufen, Livestreams übertragen alles ins Internet. „Eine Riesengeschichte”, sei all das, sagt die Kollegin aus Kanada, „vielleicht das Ende Europas. Das interessiert sogar die Leute in Amerika.” Um halb acht, zur besten Sendezeit, quasi Prime-Time, rollt eine Diesellok über den Bahndamm. Sie schiebt einen rostfarbenen Waggon vor sich her, der an der Vorderseite mit Stacheldraht umwickelt ist. Zentimeter für Zentimeter nähert sich der Waggon dem Zaun, die Zeit gerinnt, trotz all der Journalisten ist es gespenstisch still. Jeder spürt, gerade Zeuge der Geschichte zu werden. Was im 27. Juni 1989 mit dem Zerschneiden des Stacheldrahts an der burgenländischen Grenze begann, endet am 14. September 2015 hier.
Es ist die Stunde Null. Um fünf Minuten vor zwölf postiert sich Orbáns Stimme im Dunkel der Nacht vor den verschlossenen Grenzbalken am hermetisch abgeriegelten Übergang zu Serbien. Zoltán Kovács, ein Glatzkopf in brauner Lederjacke, vermeldet als Orbáns Sprecher stolz Vollzug. „Die Ära der illegalen Einwanderung ist hiermit beendet. Ungarn schiebt dem Asyl-Shopping einen Riegel vor”, sagt er in die Kameras, „das Beispiel unseres Landes wird Schule machen.”
Der Mann, der vor Wochen sagte, die 71 Toten im Kühllaster von Parndorf seien selber schuld an ihrem Schicksal, sie hätten in den Lkw ja nicht einsteigen müssen, verleugnet nun, was wir wenig später einen Kilometer weiter beobachten. Vor dem Bahnhof von Röszke parken Busse mit laufendem Motor. Es sind Dutzende und sie sind voll mit Flüchtlingen. Die letzten, denen es gelungen ist, die Grenze zu überqueren, bevor sich der Zaun schloss. Allein an diesem Tag waren es 9.380, so viele wie nie zuvor. Schlaftrunken trotten sie nach und nach aus den Bussen. Männer, Familien mit Kindern, Frauen mit Babys. Hunderte stapfen durch ein Spalier an Polizisten zum bereitstehenden Zug. Sein Ziel ist wohl Hegyeshalom, der Grenzbahnhof zu Österreich. Ungarn schafft sich die letzten Flüchtlinge außer Landes. Schon am nächsten Tag wird aufgeräumt, der Müll, der entlang ihrer Routen liegen blieb, entsorgt und all das getilgt, was an ihren Aufenthalt erinnert.
Orbáns perfider Plan
Orbán, der Gewinner? Ist sein Plan aufgegangen und er der erste Premier auf der Balkanroute, der den Strom der Flüchtlinge umlenkt? Macht er nun Punkte gut gegenüber seinem gefährlichsten Gegner, der rechtsextremen Jobbik, die in Umfragen schon zweitstärkste Kraft ist? Beim Blick in die Zeitungen muss sich am Tag 1 Genugtuung bei ihm einstellen. Orbáns schwer angeschlagene Beliebtheit steigt wieder, weit über 80 Prozent der Ungarn finden die Idee des Zauns richtig. Da mögen Hilfsorganisationen und ausländische Regierungen noch so sehr das Menschenverachtende seines Handelns anklagen, die drakonischen Maßnahmen kritisieren, die Sondergesetze verurteilen, nach denen illegalen Migranten bis zu drei Jahre Haft drohen. Orbán sieht sich im Recht und als Einziger, der Flüchtlinge nicht weiter durchwinkt, sondern den Buchstaben des Schengen-Abkommens folgt. Dass er die Flüchtlinge nur benutzte, um innenpolitisch zu punkten, dass er die Notlage selbst provozierte, um aus ihr als Retter hervorzugehen, ist zynisch und Teil des Experiments Orbán.
Schon 48 Stunden später verkehrt sich das Bild ins Gegenteil. Auf der serbischen Seite der Grenze haben Tausende Flüchtlinge die Nacht in einem improvisierten Lager zugebracht. Manche schliefen in Zelten, die Hilfsorganisationen brachten, andere auf dem bloßen Asphalt der Autobahn Budapest-Belgrad, die sie blockierten. In Trauben hingen sie erst am Zaun und blickten dann direkt in die Gesichter der Polizisten gegenüber. „Öffnen, öffnen”, schrien sie ihnen entgegen und trommelten gegen das Eisentor auf der Autobahn. „Thank you, Angela”, war der Gesang, den sie anstimmten, als immer mehr TV-Kameras auf sie gerichtet waren.
„Bringt die Frauen und Kinder“
Als all das wirkungslos bleibt, hat ein Anführer, der Syrer Maher, einen Einfall. „All die Männer, verschwindet von hier”, ruft er in die Gruppe, „bringt die Frauen und die Kinder, sie sollen sich direkt vor das Tor setzen.” Am Anfang herrscht Verwirrung, das Gros der an die 3.000 Campierenden, sind kräftige Kerle und junge Burschen. Erst nach und nach tauchen Frauen mit Babys und Kleinkindern auf. Ihr Bild soll in die Welt hinausgehen, Mitleid erwecken und Druck auf die hartherzigen Ungarn machen. Maher, der in Syrien studierte, hat verstanden, die Medien für die Anliegen der Flüchtlinge einzuspannen. Trotzig und ungestüm wird die Gruppe um ihn erst, als auch das nichts bewirkt.
„Was soll das?”, sagt Mehdi, ein Mechaniker aus Aleppo aufgebracht, „Angela hat uns doch eingeladen. Warum lassen sie uns nicht weiter?” Jeder hier kennt die deutsche Kanzlerin, ihre Worte, dass alle Syrer in Deutschland willkommen wären und keiner begreift, warum Ungarn ihnen den Weg dorthin nun versperrt. Die Bilder der die Flüchtlinge beklatschenden Helfer auf den Bahnhöfen haben eine Sogkraft entfaltet, die gewaltig ist. Je mehr Zeit vergeht, desto schneller schlägt Unverständis bei manchen auch in Aggression um. „Jeder gibt sich als Syrer aus”, schimpft Mehdi, „die Iraker, Afghanen, sogar die aus Pakistan behaupten es. Dabei stammt höchstens die Hälfte von allen hier tatsächlich aus Syrien.”
Die Männer sind ratlos. So weit haben sie es geschafft, so viel Geld an Schlepper bezahlt und nun soll hier, an diesem Zaun, vor den Toren der EU, Endstation sein? Gerüchte machen die Runde, dass sich eine Route über Kroatien und Slowenien bis nach Österreich öffnet. Doch noch weiß keiner, wie er an die Grenze kommen soll. Warum einen Umweg wagen, wenn hier die direkte Trasse verläuft?
„Allahu akbar“ an Ungarns Grenze
Und dann zeigt sich, was passiert, wenn eine nicht zu stoppende Masse auf eine nicht zu überwindende Barriere trifft. Männer rütteln immer wieder am Grenztor. Treten dagegen. Aus der Gruppe fliegen Steine und Holzlatten auf die ungarischen Polizisten. Den ersten Männern gelingt es, das Tor zu durchbrechen. Es aufzureißen. Hunderte Flüchtlinge strömen herbei, die Nachricht der scheinbaren Stürmung verbreitet sich. Als weitere Steine fliegen, antwortet die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern. Die Bilder kleiner weinender Mädchen gehen um die Welt. Was folgt, ist eine Straßenschlacht. Erstmals Gewalt, die von Flüchtlingen ausgeht. Brennende Autoreifen, Steine werfende Männer und ein paar Burschen, die von einem Dach „Allahu Akbar”, Allah ist der Größte, brüllen, wie Videoaufnahmen belegen. Das gleicht nun mehr dem Nahen Osten als Mitteleuropa.
Am Ende kritisieren von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon abwärts alle das Vorgehen der ungarischen Regierung. Die fühlt sich missverstanden. Zoltán Kovács, Orbáns Stimme, weist auf 14 verletzte Polizisten hin und drei verletzte Kinder, die von Flüchtlingen über den Zaun geworfen worden wären.
An Tag 3 des Experiments Orbán hat sich die Lage beruhigt. Ungarn errichtete über Nacht einen zweiten Stacheldrahtzaun am Grenzübergang und viele der Flüchtlinge haben das Lager dann doch in Richtung eines weniger widerspenstigen Landes verlassen: Kroatien. Dort hat der Premier vorschnell angekündigt, einen Korridor zu errichten, damit die Flüchtlinge ungehindert nach Slowenien weiterreisen können. Dort wäre dann wieder eine Schengen-Außengrenze. Was danach kommt, wissen weder die Flüchtlinge, noch die Politiker in Berlin, Wien oder Brüssel. Fahren auf Sicht. Gegen die Wand?
Erschienen in NEWS 38/2015