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Zwölf Kilometer hinter Syrien

Der Bub in der Schachtel ist der kleine Hassan. Seine Heimat eine Lager in Libanons Bekaa-Ebene (Foto: Ricardo Herrgott)

Der Bub in der Schachtel ist der kleine Hassan. Seine Heimat ein Lager in Libanons Bekaa-Ebene (Foto: Ricardo Herrgott)

„Wir müssen vor Ort helfen”, predigen Europas Politiker. Was Worte und Wirklichkeit trennt, zeigt sich im Libanon, wo schon jeder dritte Einwohner ein Flüchtling ist. Ein Report aus einem Land im Ausnahmezustand

Ein Betonboden, eine Decke und ein bisschen Zeit. Für einen kleinen Buben wie Hassan würde das einen großen Unterschied machen. So ist es aber 7 Uhr früh und er wird auf einer Bastmatte munter, die über der kalten, blanken Erde liegt. Darüber steht ein Zelt. Wobei das Wort Zelt für den Verschlag aus Plastikplanen und Kartons ein vornehmer Begriff ist. Hat Hassan Glück, ist seine Mama noch in diesem Zelt. Sie könnte ihm das Gesicht waschen, ihm vielleicht seine schmutzige Hose ausziehen und dabei helfen, die andere anzuziehen. Zwei davon hat Hassan, dazu ein löchriges Leibchen und ein Paar gebrauchte Pantoffel, sonst nichts. Aber die Mutter ist weg, das Zelt leer. Eine Schale mit Brei hat sie für ihn auf dem Boden hinterlassen. Hassan steckt seine Hand hinein, stopft den Brei in den Mund. Dann läuft er raus, sucht die Mutter. Draußen ist das, was Hilfsorganisationen ein ITS nennen – informal tented settlement auf Englisch, ein provisorisches Zeltlager auf Deutsch, ein untragbarer Zustand in allen Sprachen.

Wir sind im Libanon. Einem Land, dem bei der Frage, wie wir mit der größten Krise unserer Zeit umgehen, die wohl entscheidende Rolle zukommt. Der Libanon, gerade einmal halb so groß wie Niederösterreich, dient Agitatoren in der Flüchtlingsfrage als Projektionsfläche. Offiziell sind 1,2 Millionen Syrer ins Nachbarland gekommen. Dieses hat aber selbst gerade einmal 4,1 Millionen Staatsbürger. Und Experten schätzen die tatsächliche Zahl an Flüchtlingen gar auf zwei Millionen, was jeder dritte Bewohner des Libanon wäre. In keinem anderen Land der Welt leben im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Flüchtlinge. Und so wird klar, warum der Libanon benützt wird. Von denen einen, um die Zahl der in Österreich oder Deutschland ankommendenen Migranten klein wirken zu lassen und vom lange noch nicht vollen Boot zu sprechen. Von den anderen zur Angstmache, als Schreckensvision und Vexierbild dessen, was Europa droht. Beides ist verlogen und falsch. Der Libanon lässt einen ganz andere Lehren ziehen.

Eine Region steht in Flammen

Es ist elf, als Hassan draußen die Holzstangen, mit denen weitere Hütten gebaut werden sollen, als Spielzeug für sich entdeckt. Mit einer hat ein anderer Bub vorhin auf ihn eingedroschen. Nun schnappt sich Hassan den Pfosten und verfolgt damit einen Jüngeren durch die Gassen zwischen den Zelten und Hütten. Erst am Ende des Lagers, dort, wo die Latrinen stehen und es erbärmlich stinkt, rutscht der andere Bub aus, fällt hin und Hassan lässt von ihm ab. Sechs Finger hält Hassan hoch, wenn man ihn nach seinem Alter fragt. Wer wissen will, warum er nicht in der Schule sei, sieht in seinen Augen, dass er mit diesem Wort nichts anzufangen weiß. Und deine Eltern, Hassan, wo sind deine Eltern? Er deutet mit der Hand nach rechts und läuft weg. Dort liegen Felder. Erdäpfel, Zitronen und Pfirsiche werden angebaut. Weiter hinten beginnen die Berge. Es ist ein kahler Gebirgskamm, die Grenze zu Syrien und zu Hassans einstiger Heimat. Nachts wacht er manchmal auf, weil dort die Bomben und Raketen so laut detonieren, dass das Grollen bis zu ihm in den Schlaf kriecht. Zwölf Kilometer sind es von hier bis in den Krieg.

Dieser Krieg hat im Nahen Osten alles verändert. Die ganze Region steht in Flammen. Sie ist ein Schlachtfeld für einen Stellvertreterkampf der Gläubigen und das Aufmarschgebiet islamistischer Mörderbanden. Während Syriens Machthaber Assad nun unter Mithilfe von Russlands Präsident Putin bessere Chancen auf ein Überleben hat, stirbt sein Land in Raten. Von den einst 23 Millionen Einwohnern sind über 300.000 tot. Neun Millionen flohen vor Assads Fassbomben und dem IS-Terror innerhalb Syriens in sicherere Gebiete und vier weitere in die Nachbarländer Türkei, Jordanien und eben den Libanon. Europa aber nahm all das erst im fünften Jahr des Krieges wirklich wahr. Interesse kam bloß auf, als der Tross der Fliehenden in größerer Zahl vor der eigenen Haustür auftauchte. War zuvor Wegschauen, Wegleugnen und Wegweisen angesagt, werden Politiker aller EU-Staaten seither nicht müde zu betonen, dass es ganz wichtig sei, die Hilfe vor Ort auszubauen, nämlich in Syriens Nachbarländern. Wenn sich dort die Lage der Menschen verbessert, würde sie das davon abhalten, überhaupt erst nach Europa aufzubrechen.

Wohin mit einer Million Menschen?

Soweit die Idee, so gut der Plan. Wie deren Umsetzung klappt, zeigt Hassans neue Heimat, die Bekaa-Ebene im Libanon. In dem schmalen, fruchtbaren Tal an der Grenze zu Syrien, hat die Zahl der Flüchtlinge die der Bewohner längst übertroffen. Wer von den Syrern anfangs noch Geld besaß, mietete sich in Wohnungen, Garagen oder Hinterhöfen ein. Dachte, der Krieg würde schon enden und man bald zurückkehren können. Mit jedem Monat, der verging, wurde die Lage in Syrien hingegen undurchsichtiger, die Unterscheidung zwischen „bösem Assad” und „guten Rebellen” unsinniger – und das Geld der Flüchtlinge weniger. Der Libanon wollte von Beginn an verhindern, dass große, fixe Flüchtlingslager im Land entstünden. Denn in jenen, die die Palästinenser ab 1948 als Provisorium errichtet hatten, fristet heute deren dritte Generation noch immer ein darbendes Dasein. Das Resultat dieser Entscheidung zeigt sich auf dem Computer von Yousif, dem Koordinator des libanesischen Roten Kreuzes. Gegen 12 Uhr Mittag ist er in Hassans Zeltlager gekommen. Er klappt den Bildschirm seines Laptops hoch und lädt eine Karte des Libanon. Darauf symbolisiert jede rote Stecknadel eines der inoffiziellen Lager. Es sind so viele, dass in der Mitte nur noch die bis auf 2.000 Meter ansteigenden Gipfel des Libanon-Gebirges als freie Fläche übrig bleiben.

Yousif scheint sich ein wenig zu schämen für das, was vor seinen Augen im Lager passiert. Die Kinder gehen grob miteinander um, verwenden Schimpfwörter, die manch Erwachsener nicht kennt, schlagen und hauen aufeinander ein. Sie sind wie junge Wölfe ohne Obhut im rauesten Revier. „Ihre Eltern müssen den ganzen Tag auf den Feldern arbeiten. Sie lassen die Kinder allein und es fehlt ihnen an allem.” Denn, wer Flüchtling im Libanon ist, kann vom völlig überforderten Staat nicht viel erwarten. Schon gar kein Geld. Das brauchen sie  aber, denn für das Land, auf dem ihre dürftigen Zelte stehen, ist Miete fällig. 1.000 Dollar im Jahr fordern die Grundbesitzer von jedem. Dazu an die 180 Dollar für Strom und Wasser im Monat. „Asylsystem gibt es im Libanon keines”, sagt Yousif, „die Syrer sind nur geduldet, dürfen aber legal nicht arbeiten. Also schaut jeder, dass er schwarz auf den Feldern oder Plantagen was findet oder als Tagelöhner, der an der Kreuzung auf Bauunternehmer wartet.” Selbst mit Schulen sieht es schlecht aus. Heuer wären erstmals mehr syrische als libanesische Kinder schulpflichtig gewesen. Von den 400.000, die das sind, kam aber nur ein Viertel tatsächlich in einer Klasse unter. Eine ganze Generation verroht, wird heute zum Opfer und morgen womöglich zum Täter in den Reihen des IS und Al Kaidas. Doch ist einem Staat wie dem Libanon, der in sich zerrissen und schwach ist, seit über 18 Monaten keinen Präsidenten mehr hat und nur eine provisorische Regierung, tatsächlich ein Vorwurf zu machen? „Es ist zu viel für unser kleines Land”, sagt Yousif und blickt sich um, „viel zu viel.

„Wir leben hier wie Vieh“

Gleiches gilt für das Rote Kreuz und andere Freiwilligenorganisationen. Deren Mittel sind begrenzt, die Budgets knapp und die Spenden versiegen, je mehr Konflikte auf der Welt ausbrechen und je länger diese andauern. „Wir haben hier Kanäle gegraben, Latrinen aufgestellt, sorgen für sauberes Wasser und zusätzliches Essen”, sagt Yousif und zoomt dabei in seine Karte hinein. Aus den Stecknadeln werden nun Zelte, jedes steht für ein Lager. Viele sind gelb, weit weniger rot gefärbt. „Wir kümmern uns um die Roten, für mehr reicht es nicht.” Auch UN-Organisationen wie die Welthungerhilfe musste zuletzt das Geld, das sie Flüchtlingen für Nahrung gibt, von 45 Dollar je Monat und Familie auf 18 kürzen. Etliche Geber-Staaten zeigten sich von Jahr zu Jahr knausriger. So auch Österreich, das zwischen 1998 und 2009 im Schnitt zumindest noch vier Millionen Dollar in die Hungerhilfe einzahlte. Je lauter Politiker im Fernsehen aber später von der wichtigen Hilfe vor Ort sprachen, desto weniger überwiesen sie – zuletzt kam aus Wien nur noch eine Million im Jahr an.

Dort, wo der kleine Hassan wartet, bis die vom Arbeiten völlig erschöpften Eltern bei Einbruch der Dunkelheit von den Feldern zurückkehren, macht sich Angst breit. Davor, dass der Krieg nie endet und die Heimat für immer verloren bleibt. „Wir leben hier wie Vieh”, sagt eine Mutter und erzählt von Ratten, die in die Hütten kriechen. „Zuerst nahmen sie uns die Heimat”, ergänzt der alte Issa, dem einst ein Hof gehörte, „und nun auch noch die Würde.” Geschichten habe er gehört, dass Väter aus lauter Not und Verzeiflung bereits ihre Töchter an Scheichs aus den Golfstaaten verkauften. Diese schicken gern Handlanger auf der Suche nach Jungfrauen in die Lager. Je schneller sich die Lage verdüstert und die Hoffnung schwindet, desto mehr hängen manche daher einem ganz anderen Traum nach. Und der heißt weiterhin Europa. Die, die es bisher dorthin schafften, zählten in Syrien meist zur Mittel- und Oberschicht, sie hatten Geld und konnten sich die Schlepper von der Türkei nach Griechenland leisten. Und nun steht eine Frau wie Franji im grünen Tuch in ihrem Zelt und spricht „München” fehlerfrei aus. Fünf Kinder hat sie. Ihr Mann neben ihr noch eine Zweitfrau. Alle waren sie in Syrien Bauern, doch zwei der Brüder seien schon in dieser Stadt in Bayern, die Leben verheißt. „Ich habe gehört, dass die Reise gefährlich sein soll”, sagt sie, „ich habe auch das Bild von dem toten Buben am Strand in der Türkei gesehen. Aber es ist immer noch besser, es versucht zu haben und dabei zu sterben, als hier zu sitzen und auf den Tod im Winter zu warten.”

Beirut tanzt auf dem Vulkan

Die Angst vor dem Winter, der Kälte und dem Schnee stülpt sich über jedes Gespräch. Sie kriecht in jede Ritze und macht das, was an Hoffnung noch vorhanden ist, zunichte. Das Lager liegt 1.010 Meter über dem Meer und die Erinnerung an den letzten Winter, dessen unerbittlichen Stürme und die Massen an Schnee, lässt alles gefrieren.

Wer die Lager hinter sich zurücklässt, gelangt rasch an die ersten Sperren der libanesischen Armee. Junge, zappelige Männer halten nervös Wache. Sie fürchten ein Einsickern des IS, ein Übergreifen des syrischen Bürgerkrieges auf ihr Land. Immer wieder kommt es im Grenzgebiet zu Scharmützeln, liefern sich islamistische Kämpfer Feuergefechte mit libanesischen Soldaten. 14 von ihnen wurden im August des vergangenen Jahres von IS-Schergen über die Grenze nach Syrien entführt. Ob sie überhaupt noch leben und als Faustpfand für das, was kommt, dienen sollen, lässt sich nur erahnen.

Unten am Meer, in der Hauptstadt Beirut, ist zu beobachten, was für den Libanon alles auf dem Spiel steht. Noch wird dort rege gebaut, wachsen Wolkenkratzer in den Himmel, dröhnt Musik aus den Clubs und wird versucht, die Gräben zwischen den Religionen zu überbrücken. Christen, Schiiten und Sunniten stellten einst je ein Drittel der Bevölkerung, entsprechend teilten sie das Land unter sich auf. Alles ziemlich korrupt, von Bomben, Terror und einem 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg zwischenzeitlich verwüstet, aber irgendwie ging es immer weiter. Noch läuten die Kirchenglocken in Beirut, während nebenan der Muezzin zum Gebet ruft und davor ein Mädchen im engen Tanktop über die Straße spaziert. Doch der Zustrom der zu 90 Prozent sunnitischen Flüchtlinge aus Syrien verschiebt das ohnedies angespannte Verhältnis der Religionen, droht das Gefüge zum Zerbrechen zu bringen. Echte Regierung gibt es keine, da sich die Glaubensrichtungen nicht auf ein verändertes Wahlsystem einigen können. Der Präsidentenpalast ist seit Mai 2014 aus dem gleichen Grund verwaist. Hinzu kommt, dass die Flüchtlinge schwarz zu jedem angebotenen Preis schuften und die Libanesen spüren, welch Gift das für ihre eigenen Löhne ist.

All das ergibt ein Gemisch, dem ein einziger Funke zur Explosion reicht. Fiele etwa Syriens Hauptstadt Damaskus, wo in weiten Teilen noch vergleichsweise friedliches Leben herrscht, wären die Millionen, die dann von dort kämen, für den Libanon der Kollaps. Schon jetzt fühlt man sich von der Welt im Stich gelassen. Hat erkannt, dass Sonntagsreden selten in Montagsüberweisungen münden. Und fragt sich, ob es noch länger Sinn macht, den Hafen von Tripoli, im gefährlichen Norden des Landes, scharf zu bewachen. Von dort legen täglich Fähren ins türkische Mersin ab. Eine ideale Verbindung für alle, die weiter nach Europa wollen. Schon tauchen in libanesischen Medien Berichte auf, wonach 90.000 Flüchtlinge allein im August und September auf diesem Weg das Land verlassen haben. Dazwischen stecken die Sicherheitsapparate in Beirut Journalisten aber auch gern Geschichten von aufgegriffenen Schleppern, beschlagnahmten Booten und aufgehaltenen Flüchtlingen. Die Botschaft wirkt nur auf den ersten Blick widersprüchlich, soll aber gerade Europas Politikern zeigen, welch unterschiedliche Richtung der weitere Verlauf nehmen kann.

Libanon-Hilfe aus Österreich

Als der kleine Hassan am nächsten Tag auf seiner Bastmatte aufwacht, ist er wieder allein. Es ist spürbar kälter geworden, Wind pfeift durch die Bekaa-Ebene. Ein paar Männer bleiben im Lager zurück und ziehen selbstgekaufte und zusammengenähte Planen über die Dächer der Hütten. Sie sollen sie vor dem Schnee, der bald erwartet wird, abdichten. Das österreichische Rote Kreuz hofft, so wie schon im vergangenen Jahr, Gutscheine für Heizöl an 900 Familien auszugeben. Für mehr reicht das vom Außenministerium zu bewilligte Geld nicht. Hassans Familie wird nicht zu den Begünstigten zählen. Denn sie verfügt nicht einmal über einen Ofen. Es wird ihr vierter Winter nah und doch fern der Heimat.

Erschienen in News 41/2015

Plus: Das Video aus dem Libanon

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