
Miriam Shaded vor Warschaus Kulturpalast (Foto: Ricardo Herrgott)
Wirtschaftskrise? Nicht in Polen. Flüchtlinge? Fehlanzeige. Dennoch werden Erzkonservative mit genau diesen Themen die Wahl am Sonntag gewinnen. Und das hat Folgen für ganz Europa
Auf ihrem Pluskonto stehen 52 Menschenleben. So viele hat Miriam Shaded vor dem Tod bewahrt. Polens bekannteste Flüchtlingshelferin sitzt im blauen Kleid in ihrem Büro in einem Vorort von Warschau. Sie erzählt von Unverständnis und Ignoranz, Bürokratie und Behördenirrsinn. All dem, was es zu überwinden galt, um Menschen in Not zu retten. Shaded ist 29, Typ erfolgsorientierte Karrierefrau. Business-Englisch, Management-Ausbildung, IT-Startup-Gründerin. So weit, so perfekt.
Bis ein Anruf kam. Aus Syrien, der Heimat ihres Vaters. Shaded, in Warschau geboren, war noch nie dort, spricht kein Wort Arabisch und wusste trotzdem sofort, dass der Anruf alles verändern würde. „Menschen werden dort verfolgt, vertrieben, gekreuzigt und ihre Leichen durch die Straßen gezerrt. Je mehr ich darüber erfuhr, desto größer wurde mein Wille, zumindest einigen von ihnen zu helfen, sie nach Polen zu holen.” Nach Monaten des Werbens, im Stillen bei politischen Entscheidungsträgern, und im Lauten bei TV-Talkshows, landete der erste Flieger mit Syrern im Sommer in Warschau. Eine Premiere für das 38-Millionen-Einwohnerland, einer der homogensten Staaten Europas, in dem nur ein halbes Prozent keine ethnischen Polen sind. Shaded war stolz auf das, was ihr gelungen ist. Die Überzeugungsarbeit, das gesammelte Geld, die organisierten Unterkünfte. Tränen flossen, Familien bedankte sich bei ihrem polnischen Engel, der sie aus der Hölle gerettet hatte.
Und nun der Riss. Der Schatten, der sich über Shadeds Story legt. Der ihr gar den Beinamen einbrachte, das schönste Gesicht der Xenophobie zu sein: Shadeds Mitgefühl und Solidarität gilt nämlich ausschließlich Christen. „Polen ist ein katholisches Land, ich bin Christin, mein Vater ist Pastor. Wir sollten jene retten, die es verdient haben.” Für das Leid der Muslime, die in Syrien die Mehrheit der Bevölkerung stellen, hat sie hingegen nichts übrig. Mehr noch, der Islam ist ihr Feind.
Schönes Gesicht der Xenophobie?
Was folgt, ist ihre argumentative Annäherung an die Ablehnung. Kalt, überlegt und berechnend. Was mit Frauenrechten im Islam beginnt, setzt sich mit ihren Urlaubserfahrungen in Ägypten fort und endet bei den Mörderbanden von der Terrormiliz IS. Für Shaded ist all das mehr oder minder das selbe. „Wie kann es sein, dass wir in Europa nicht alles tun, um die Unterdrückten zu retten?”, fragt sie und meint die Christen. „Stattdessen öffnen wir lieber Tür und Tor für deren Unterdrücker.” Shaded stand bald stärker im Kampf gegen den Islam als in dem um das Leben syrischer Flüchtlinge. Sie tingelte durch TV-Shows, war gern gesehener Gast in Diskussionsrunden und warnte überall vor dem „Ansturm auf Polen.” Bis erneut ein Telefon läutete. Am anderen Ende: Janusz Korwin-Mikke, polnischer EU-Parlamentarier, stramm rechts, nah am Antisemitismus und fern der Mitte. Er bot Polens prominentester Flüchtlingshelferin die Kandidatur auf seiner Liste an. Shaded akzeptierte. Und damit endet ihre Geschichte nicht.
Wenn Polen diesen Sonntag sein Parlament, den Sejm, wählt, steht ein Machtwechsel bevor. Der gesellschaftlich konservativen und zugleich wirtschaftsliberalen Bürgerplattform (PO), die acht Jahre das Land regierte, droht die Ablöse. Alle Umfragen sagen der erzkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit” (PiS) einen haushohen Wahlsieg voraus. Und damit die Rückkehr eines Mannes, der nie ganz weg war: Jaroslaw Kaczynski. Zehn Jahre ist es her, dass er Premierminister war. Sein Zwillingsbruder Lech bekleidete zeitgleich das Präsidentenamt. Was optisch für Furore und Verwirrung sorgte, führte Polen damals in die Isolation, da sich die Kaczynskis in Anti-EU und Anti-Deutschland-Rhetorik übten. Lech Kaczynski starb 2010 bei einem Flugzeugabsturz im russischen Smolensk. Auch um seinen Bruder Jaroslaw ist es danach ruhiger geworden.
Polen veränderte sich rasant, wurde reicher und tauchte unbeschadet durch die Krise. Es war das einzige EU-Land, in dem die Wirtschaft jedes Jahr wuchs. Spätestens mit der Fußball-EM 2012 erfuhr auch der Rest Europas davon. Bestaunte Warschaus Wolkenkratzer, wunderte sich über all die neuen Autobahnen und lobte ein Polen, das sich auf der Überholspur befand. Weshalb droht dessen Architekten, dem heutigen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk und seiner Nachfolgerin Ewa Kopacz, dann die Abwahl? Ein erstes Indiz findet sich in einer kargen Sporthalle in Krakau. Damen mit auftoupiertem Haar und ältere Herren in Uniformen bilden das Publikum. Fahnen werden geschwenkt, die Hymne intoniert, als Jaroslaw Kaczynski den Saal betritt. Er ist immer noch die graue Eminenz der PiS, der Parteichef, der Strippenzieher, der Schattenmann. Er hält eine ihm auf dem Leib geschriebene Rede. Sie spricht das echte, das gute, das katholische Polen an. Alle, die den Boom ihres Landes nur aus dem Fernsehen kennen, von den feinen Clubs und teuren Bars in den Städten bloß gehört haben, selbst aber weiter an deren Rändern in Mietskasernen hocken oder in Dörfern leben, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Ihren Argwohn gegenüber diesem befremdenen Polen sahen sie bestätigt, als kürzlich geheime Tonbänder die Arroganz der Mächtigen enthüllten. Sorglos und derb plauderten führende Politiker der Regierungspartei PO darin auch vom dummen Volk und schlürften dazu Drinks zum Monatslohn eines Arbeiters.
Die Hölle droht – wegen Berlin
Kaczynskis Erfolg wächst, seit er erkannt hat, dass er die Marke PiS verbreitern und von seiner Person unabhängiger machen muss. Im Frühjahr gelang ihm das, als er mit Andrzej Duda seinen ehemaligen, weitgehend unbekannten Mitarbeiter als Präsidentschaftskandidaten aufstellte und dieser prompt gewann. Das Wahlergebnis verdeutlicht den Riss, der durchs Land geht. Die Trennlinie zwischen dem liberaleren Westen und einem klerikal-nationalistisch geprägtem Osten verläuft bizarrerweise immer noch entlang der einstigen deutschen Grenze von 1919 (siehe Karte rechts).
Nach dem Erfolg des jungen Duda, wiederholt Kaczynski nun das Experiment mit Beata Szydlo. Bisher eine Bürgermeisterin in der Provinz und Hinterbänklerin im Parlament, ist sie seine Kandidatin für das Amt des Premierministers. „Damy rade” lautet ihr Kampagnenmotto, übersetzt, „wir schaffen das”. Aber nicht etwa im Sinne von Deutschlands Kanzlerin Merkel, die so Zuversicht in ihrer Flüchtlingspolitik suggeriert. Für Kaczynski ist gerade die der blanke Wahnsinn, der Untergang des Abendlandes und die drohende Unterwanderung Polens. Dass ihm die amtierende Premierministerin Kopacz eine dahingehende Steilvorlage liefern würde, konnte er sich nur erträumen. Ein Blick auf polnische Magazincover verdeutlicht das Geschehene. Martialisch sehen sie aus, so als ob Krieg herrsche zwischen Weichsel und Oder. Auf einem ist die Frau Premier in eine Burka gehüllt und hat einen Sprengstoffgürtel umgeschnallt. „Die Hölle droht”, prangt als Zeile darunter, „auf Anordnung Berlins.”
Gemeint ist die Debatte um verpflichtende Verteilungsquoten für Flüchtlinge innerhalb der EU. Polen sah sich darin anfangs in einem Bündnis mit Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Vereint in der Ablehnung von Solidarität und vehement gegen jede Zwangsaufnahme. Für Polen ergab das eine verheerende Optik, angesichts der 70 Milliarden Euro an EU-Fördergeldern, die Brüssel bis 2020 an Warschau überweisen wird. Der Druck auf die Premierministerin schien zu groß, sie entschied sich zur Kehrtwende und stimmte den Quoten letztlich zu. Nie, polterte Kaczynski daraufhin, könne man so etwas akzeptieren, man sei viel näher bei Ungarns Premier Orbán und dessen Zäunen. Und so wurden in einem Land ohne Flüchtlinge gerade die Flüchtlinge zum wichtigsten Thema des Wahlkampfes.
Denn selbst dort, wo Kaczynskis Tiraden belächelt werden, sorgt Merkels Politik für Befremden. Oppeln, 200 Kilometer westlich von Krakau, gilt als Bastion der Liberalen und damit der PO. Vor einer modernen Glasfassade steht Karol Cebula, 85 Jahre alt, ein Unternehmer, der schon im Kommunismus Nischen für sich fand. Er ist weltgewandt, spricht akzentfrei deutsch und ist dennoch oder trotzdem über deutsches Handeln verwundert. „Wie kann Merkel einem Volk von 23 Millionen Syrern ausrichten, willkommen zu sein”, fragt er, „und dann, nachdem ihr klar wurde, dass selbst Deutschland das nicht schafft, andere Staaten dazu zwingen wollen, ihr die Last abzunehmen? Wie soll das gehen? Sollen wir hier in Polen Lager errichten, Menschen, die gar nicht bei uns bleiben wollen, einsperren?” Cebula wird die liberale PO wählen und fürchtet, dass er dennoch am Montag mit der PiS als stärkster Partei aufwachen wird.
Und spätestens dann ist die Zeit für Miriam Shaded gekommen. Die Radikale im blauen Kleid musste die Erfahrung machen, dass selbst ihren syrischen Christen, die sie nach Polen geholt hatte, das Land fremd blieb. Die Hälfte von ihnen war nach kurzer Zeit verschwunden. „Aufgebrochen nach Deutschland”, wie sie bitter sagt, „nachdem Frau Merkel ja alle eingeladen hat.” An Shadeds Abwehrkampf gegen den Islam ändert das nichts. „Ich bin im Krieg”, sagt sie, während sie im Auto sitzt und die Hochhäuser Warschaus an ihr vorbeiziehen, „das ist kein Spaß. Ich kämpfe. Ich werde bedroht. Und ich besorge mir bald eine Waffe.” Am Sonntag tritt sie zur Wahl an. Erobert Kaczynski mit der PiS nicht die absolute Mehrheit, wird er einen Koalitionspartner brauchen. Shaded steht bereit – quasi Gewehr bei Fuß.
Erschienen in NEWS 43/2015