
Marco mit seinem Taxi am Malecón in Havanna (Foto: Ricardo Herrgott)
Drei Tage im neuen Kuba. Drei Menschen, die den Wandel der Insel vorwegnehmen. Und erahnen lassen, was passiert, wenn bald die Amis am Sehnsuchtsort der Altlinken ankommen
Es ist der 21.224te Tag seit Beginn der siegreichen Revolution. Die Maschine setzt am Flughafen José Martí in Havanna auf. Die Zöllnerinnen tragen Netzstrümpfe und schmunzeln all den Gringos zu, die vom langen Flug ein wenig betäubt wirken. Noch drei Wochen, dann wird der alte Erzfeind hier landen. In der Air Force One mit Obama an Bord. Mit ihm setzt der erste US-Präsident seit 88 Jahren seinen Fuß auf die Insel. Ein Moment für die Geschichtsbücher, denn er steht für Aussöhnung, ein Ende des Embargos und den Beginn einer neuen Ära. Draußen, vor dem kleinen Flughafengebäude, wartet schon jetzt die neue Elite des Landes als Empfangskomitee: die Taxifahrer. Sie zischen den Ankommenden zu, preisen ihre Dienste an und lotsen sie zu ihren Gefährten. US-Schlitten aus den 50er-Jahren, das Kuba-Klischee schlechthin. Hier steht es, mal hochpoliert, mal so, dass die Fahrt ins Zentrum zum Wagnis wird. Dann Dunkelheit. Der Gestank von Diesel, das Dröhnen der Sechszylindermotoren. Kaum Verkehr, kaum Licht. Nur das an eine Wand gemalte Bild von Che taucht kurz im Scheinwerfer auf. „Hasta la victoria siempre“ – Immer bis zum Sieg!
Willkommen auf Kuba im Jahr 2016, dem Jahr, das alles ändert.
Kuba, das klingt nach Abenteuer, nach Revolutionsromantik, nach einem unwirklichen Ort. Bärtige Helden, die es den Imperialisten gezeigt haben. Die erst einen Diktator stürzten, um dann den Armen und Drangsalierten Krankenhäuser und Schulen zu bauen. Unschöner, die andere Version der Ereignisse vor 58 Jahren. Darin putscht sich ein skrupelloser Revolutionär namens Fidel Castro an die Macht, reißt sich allen Besitz unter den Nagel und errichtet einen Polizeistaat, der jeden Aufbegehrenden ins Gefängnis wirft. Im Widerstreit beider Erzählungen der kubanischen Revolution liegt wohl ein Teil ihrer Faszination. Die Wirklichkeit hingegen ist längst eine andere und das für jeden der elf Millionen Kubaner. Drei davon begleiten wir je einen Tag lang. Ihr Leben, ihre Hoffnungen, aber auch ihre Ängste lassen erahnen, wie das größte Experiment der Gegenwart – die Fusion von Sozialismus und Kapitalismus – enden könnte. Und was von Kuba bleibt, wenn es geht.
Jorge – Ein Revolutionär auf Abwegen
Als Jorge Nunez am 21.225ten Tag der Revolution sein Haus verlässt, ist mit deren Sieg nicht zu rechnen. Er ist 74, ein bärtiger Kerl, der Fidel Castros jüngster Bruder sein könnte. Unten, auf der Straße mitten in Havannas Altstadt, schlurft er vorbei an den Touristenmassen, die sich schon morgens ihren Weg in Richtung Plaza Vieja bahnen. Dort, auf dem zentralen Platz, ist alles schön renoviert, saniert, restauriert. Spaniens imperiale Pracht ins beste Licht gerückt. „Aber hier, seht euch das an“, sagt Jorge Nunez und deutet um sich: Putz, der bröckelt. Mauern, die bersten. Holz, das stützt. „Sie lotsen die Besucher so, dass sie möglichst wenig davon sehen“, sagt Nunez nun. Er ist dabei, seine morgendlichen Erledigungen zu machen. Vor ihm liegt eine Tour der Entsagungen. Beim Bäcker kramt er ein Büchlein hervor und erhält wortlos ein Stück Weißbrot. Ein paar Meter weiter, im Lebensmittelgeschäft, sind die Regale leer, die Kühltruhen ebenso. „Vor so viel Auswahl weiß ich gar nicht, was ich eigentlich will“, scherzt Nunez mit der Verkäuferin, die ihm dann zumindest einen kleinen Sack Reis und einen mit Bohnen reicht. Sie verzeichnet beides in dem Büchlein, der „libreta“, und winkt zum Abschied. Es schiene nun wohl ein günstiger Zeitpunkt, ein paar böse Worte über das gerade Gesehene zu verlieren. Vielleicht zu sagen, das sei ja schlimmer als in den letzten Tagen der Sowjetunion. Oder zumindest ein Schulterzucken für die Besucher als Ausdruck der Ratlosigkeit. Doch Jorge Nunez schweigt. Er steckt sein Büchlein, die „libreta“, ein und geht.
Sie ist Teil dessen, was vom real existierenden Sozialismus noch übrig ist. Vor 50 Jahren eingeführt, soll sie jedem Kubaner die gleiche Grundversorgung sichern – und das zu staatlich stark subventionierten Preisen. „Bloß mit jedem Jahr, das seither verging, kriege ich mit der libreta weniger. Waren es mal 12 Eier im Monat, sind es jetzt nur mehr fünf. Fisch und Fleisch gibt es schon Jahre keines mehr damit. Und Milch nur für Mütter mit Kindern“, sagt Nunez, der die Stiegen zu seiner Wohnung hochschlurft. Oben, in seinem kleinen Zimmer, das mit Büchern bis an die Decke vollgeräumt ist, gibt er sein Geheimnis preis: „Ich war ein Revolutionär der ersten Stunde. Meine Eltern kannten Fidel Castro, er ging in den 50er-Jahren, als er ein junger Anwalt war, bei uns Daheim ein und aus.“ Später, erzählt Nunez, habe er sich den Kämpfern um Fidel und Che angeschlossen, die in der schwer zugänglichen Sierra Maestra das Hauptquartier ihres Guerillakriegs aufschlugen. „Ich baute Molotowcocktails und brannte selbst vor Eifer“, sagt Nunez, „das Kuba von damals, das war der Staat der amerikanischen Mafia. Sie betrieben Bordelle und Casinos. Alles toleriert von der US-Regierung, die aus Kuba ein vorgelagertes Rohstofflager machte, uns unfrei hielt und ausbeutete.“ Nunez erzählt das ganz ruhig, so als sei er ein Geschichtsprofessor. Dabei wurde er Arzt, studierte Gehirnchirurgie und arbeitete bald beim Militär. Von der Revolution hingegen sollte er bald genug haben, auch weil Castros Hinwendung zum Kommunismus ihm als Verrat alter Ideale erschien. Und doch bleibt seine Kritik an der Oberfläche, am Offensichtlichen. „Was soll denn besser werden, nur weil die Amerikaner nun auf Freundschaft machen? Für uns waren sie nie Feinde. Aber ausgehungert haben sie uns trotzdem, all die Jahrzehnte lang.“ Umgerechnet acht Euro Pension erhält Nunez im Monat. Soviel wie ein Kellner unten auf der Plaza am Tag Trinkgeld macht. Die Monatsration der libreta hält, wenn Nunez sparsam kocht, eine Woche. Und dann? „Moros y Cristianos!“, sagt Nunez in einer Mischung aus Bitterkeit und Lachen. Es ist Kubas Nationalgericht: schwarze Bohnen auf Reis.
Linnett – Verliebt in Fidel
Linnett Hernaldez hätte den 21.226ten Tag der Revolution, einen Samstag, fast verschlafen. Erst am frühen Nachmittag taucht die durchtrainierte Schwarze im Foyer des Hotel Nácional auf. Sie trägt das Haar burschikos kurz, ist gertenschlank und hungrig. „Aber hier, inmitten des Touristennepps eines einstigen Mafiahotels wollen wir doch nicht wirklich essen, oder?“, fragt sie. Wir sind in Vedado, dem hipperen Viertel von Havanna, wo die Stadt in den 30er-Jahren in die Höhe wuchs und ihr imperiales, spanisch geprägtes Erbe hinter sich ließ. Die Straßen sind breit, die Vorgärten grün, die Häuser entweder Wolkenkratzer oder Bungalows. Linnett ist 31 und Schauspielerin. In den Filmen, die sie bisher drehte, war sie auf die Rolle der aparten Kämpferin abonniert. „Und das bin ich auch.“ Kubas Filmindustrie wird der baldige Durchbruch prophezeit – und das nicht bloß, weil das heruntergekommene Havanna sofort als Kulisse für jeden erdenklichen Kriegsfilm durchgeht. Das Regime fördert Kunst und Kultur, der Eintritt in Kinos und Theater ist selbst für hiesige Verhältnisse spottbillig. Linnett schäkert und lacht, erzählt von ihren Filmen und vom Theaterspielen, das sie schon um die halbe Welt brachte, unter anderem auch zu den Wiener Festwochen. Und dann, beim Versuch abzutasten, was sie von all dem Wandel vor ihrer Haustür hält, fällt der Satz, ganz beiläufig: „Ich liebe Fidel!“
Linnett sagt es nicht so als sei sie ein Groupie, auch nicht aus der Position der Protegierten, sondern so als könnte man kaum einer anderen Meinung sein. Und dann, ebenso salopp, folgt der Einschub: „Klar, das System ist kaputt. Die Leute verdienen nichts. Jeder der kann, schaut, dass er eine Million anderer Wege findet, um an Geld zu gelangen.“ Sie erzählt von Freundinnen, die Ärztinnen sind und nebenbei geschmuggelten Schmuck verkaufen, von Friseurinnen, die wohl auch horizontalere Dienstleistungen anböten und Köchinnen, die Abend für Abend das beste aus der Küche abzweigen, um es schwarz zu Geld zu machen. „Aber hey, was bleibt ihnen auch anderes übrig?“
Und trotzdem, irgendetwas ist an diesem Kommunismus in der Karibik doch auch gut. „Du bist nicht wie bei den Amerikaner nur einen Herzinfarkt vom Privatkonkurs entfernt“, sagt sie, „das Gesundheitssystem ist gratis, die Bildung auch.“ Doch Brot und Spiele kommen in Fidels Versorgungsstaat entscheidend zu kurz. Als es dämmert, hocken vor Linnetts Appartement ganze Gruppen von Teenagern eng beieinander. Völlig vertieft starren sie in ihre Smartphones, deren Displays sich in ihren Gesichtern widerspiegeln. Braucht es ein Bild für die Stärke, aber auch die Gefahr dieser Technologie, dann ist es dieses. Denn Kuba ist sonst so analog wie nur möglich. Internet gab es bis vor wenigen Jahren gar nicht. Dann zu horrenden Preisen in den Lobbys teurer Hotels und erst vor einem halben Jahr entstanden erste Hotspots. Hier kostet eine Stunde Surfen immer noch zwei Euro – bei einem monatlichen Durchschnittsverdienst von maximal 35 Euro. „Aber seht euch die Burschen an“, sagt Linnett, „lieber keine Freundin, dafür ein Handy.“ Eine Neigung, die dem Regime durchaus bewusst ist, weshalb die Preise fürs Surfen kaum sinken werden. Und all die iPhones und Samsungs, wo kommen die plötzlich her, ist doch in Havanna weit und breit kein solches Geschäft auszumachen? „Geschenke“, weiß Linnett, „jeder kennt in der Familie doch irgendwen, der Verwandte in Florida hat. Und die kaufen sich doch alle sechs Monate ein neues Gerät. Das alte schicken sie her.“
Linnett fährt hoch in ihre Wohnung im letzten Stock eines Art-deco-Hochhauses aus den 30ern. Sie sperrt die Tür auf und der Blick durchs geöffnete Fenster reicht direkt raus aufs Meer. Es ist ein Refugium, das sie bewohnt, ein Schatz im Herzen Havannas. Ein anderer liegt ein paar Kilometer weiter westlich in einer ehemaligen Fabrik für Speiseöl. Hier befindet sich das Kulturzentrum Fábrica de Arte Cubano, das so auch in New York oder Paris sein könnte. Es ist eine Mischung aus coolen Bars, Konzerthalle, Galerie, Kino und Cocktailschuppen mit Coolness-Faktor. Für Linnett ist es ein Heimspiel, wird sie doch geküsst und umarmt, sobald sie auftaucht. Produzenten, Schauspieler, Schöne der Nacht, sie alle sind hier vereint und betont progressiv. Die Fábrica ist der größtmögliche Widerspruch zu den runtergekommenen Rumkneipen im zerfallenden Zentrum. Und oben, in der Ausstellung, ist die Angst der Alltagskubaner vor der Übernahme durch die Yankees, etwas das für subversiven Humor taugt. Ein Bild zeigt die zerbröselnde Skyline Havannas, den Malecón, in den die Zeichen einer drohenden Zukunft hineinmontiert sind: Drive-Inns, von McDonald’s bis Burger King, Starbucks ist auch mit Logo vertreten, Apple sowieso. Linnett ist erst ein wenig geschockt, als sie das Bild sieht, dann sagt sie ernst: „Der Wandel wird geschehen und ist auch bitter nötig – aber zu unseren Bedingungen.“
Marco – Mit dem Taxi in die Freiheit
Am 21.227ten Tag der Revolution stellt Marco so wenig Bedingungen wie am Tag zuvor. Er ist schon froh, wenn sein Auto in der Früh anspringt. Denn der flaschengrüne Dodge, Baujahr 1950, ist sein Einkommen. Ihn parkt er um 9 Uhr am Morgen vor dem Kapitol und hofft auf Kundschaft. Als wir losrumpeln, dauert es nicht lange, bis sich Marco, kurze gegelte Haare, rotes T-Shirt, in Rage redet. „Seht euch das nur an. Die Hauptstadt Kubas sieht aus wie Dresden 1945 oder wie Aleppo in Syrien heute. Ein paar Kirchen und ein paar Paläste haben sie für die Touristen renoviert. Und der Rest? Ruinen, bloß ohne Krieg.“ Tatsächlich muss man schon ein großer Revolutionsromantiker sein, um dem allumgreifenden Zerfall Charme abgewinnen zu können. Zwar hat auch Morbidität ihren Reiz, aber nicht wenn in ihr zwei Millionen Menschen hausen. Havanna ist wie eine alte Dame, die seit 58 Jahren das gleiche, schon löchrige Kleid trägt und sich mit dem selben, längst ranzigen Parfüm einsprüht. Marco trotzt ihr mit beißendem Spott. Bis zum Stadtrand hat er Che Guevara bereits einen Mörder und Fidel Castro einen Verräter genannt. Bis zur Auffahrt auf die leere Autopista in den Westen, hat er auch mit dessen Bruder und Nachfolger Raúl Castro abgerechnet. Zu sagen Marco, 31 Jahre alt, hielte nicht viel vom Regime, käme einer infamen Untertreibung gleich. Und er hat Gründe, die er ausführt, während er den Wagen an üppigen, doch kaum bestellten Wiesen und fast ohne jeglichen Gegenverkehr durchs Land steuert.
„Dieses System ist von Anfang bis Ende gescheitert. Verrottet. Ausgehöhlt. Die klassenlose Gesellschaft ist in Wahrheit die brutalste Trennung zwischen einer kleinen reichen Elite und Abermillionen von Habenichtsen, die auf der Welt existiert. Kuba produziert nichts, außer Angst und Anpassung. Wir sind eine Insel, doch in den Restaurant gibt es kaum Fische. Wir haben beste Böden, aber abends leere Tische. Wir haben eine Elite im Luxus und Bewohner in Armut.“ Marco ist es bewusst, dass wir Journalisten sind. Doch das scheint ihn in seiner Abrechnung noch zu bestärken, auch wenn er sich damit in Gefahr bringt. „Ich will nicht mein Leben einem System opfern, das kaputt ist. Ich will nicht, dass mein Kind jeden Tag in der Schule einem Mörder salutiert.“ Aber, was ist die Antwort auf all die Klagen, die harten Worte, die schonungslose Abrechnung mit Castros Kuba? Marco deutet auf einen Wunderbaum, der an seinem Rückfahrtspiegel baumelt. Er trägt Stars and Stripes, die Fahne der USA. „Ich sah schon Florida, ich sah die Küste“, sagt Marco und starrt voller Ernst ins Leere.
Zu elft seien sie gewesen, beim Versuch die Vereinigten Staaten mit einem selbstgebastelten Floß zu erreichen. 90 Kilometer übers offene Meer, immer nach Norden. Was Marco beschreibt, lässt die Überfahrten syrischer Flüchtlinge auf griechische Inseln im Vergleich wie Wochenendbootsfahrten wirken. Es ist ein blanker, brutaler Kampf ums Überleben. In einem Meer mit Haien, hohem Seegang und einer US-Küstenwache, die wegen der steigenden Zahl fliehender Kubaner hochgerüstet ist. Viele starten gerade jetzt los. Grund ist die Angst, dass mit der Aussöhnung bald auch jene Gesetze fallen könnten, die Exil-Kubanern jetzt noch sofort die Arbeitsgenehmigung erteilen, sofern sie die Küste heil erreichen. „Es war so knapp: Wir waren 14 Stunden auf See, sahen das Ufer am Horizont, bevor sie uns schnappten und nach Tagen elendiger Haft zurück nach Kuba schickten.“ Marco, er ist ein Gescheiterter wie Getriebener zugleich. Das Auto, das er fährt, gehört ihm nicht. Ein Parteibonze vermietet es zu einem Tagessatz von 40 Euro. Nur, was er darüber einfährt, bleibt ihm. Und ein eigenes Auto? Marco zeigt auf einen alten russischen Lada, der gerade vorbeiächzt „Der kostet 14.000 Euro, so viel hat keiner, außer er ist in der Partei.“ Im Grunde könnten ihn aber nicht einmal zehn solcher Autos zum Bleiben bewegen. Abends, sobald es dunkel wird, basteln Marco und seine Freunde schon an einem neuen Boot. Spätestens in einem halben Jahr wollen sie es wieder versuchen. Würden sie erwischt, droht ihnen Gefängnis. „Aber das ist Kuba für mich auch hier draußen – nur ohne Gitter.“
Am 21.228 Tag der Revolution trifft schließlich Österreichs Bundespräsident Heinz Fischer mit einer Entourage aus Politik und Wirtschaftstreibenden für einen zweitägigen Staatsbesuch in Havanna ein. Auch ihr Konvoi passiert auf dem Weg vom Flughafen das Che-Plakat. „Hasta la victoria siempre!“
Erschienen in NEWS 09/2016