Geboren als Miguel, ist ein Mike aus ihm geworden. Nun steht er da, trinkt seinen Cortadito, den starken Espresso mit einem Schuss Milch und viel Zucker, wie sie ihn hier so lieben. Pafft zwischendurch an seiner Zigarre, ruft vorbeigehenden Freunden ein „hombre“ nach und lässt den Blick schweifen. Vorbei an den Cafeterias, den Taco-Ständen und Salsa-Clubs, bis hinüber zu den alten Herren, die im Park Domino spielen.
Nichts von alldem gab es, als Miguel Ugarte vor 50 Jahren in Miami ankam. Er war acht. Ein kleiner Bub, geflohen mit den Eltern aus der Heimat. Miami, die heutige Metropole Floridas, hatte damals eine halbe Million vorwiegend weiße Einwohner und lag am Rande der Everglades-Sümpfe. Kaum einer bekam dort überhaupt mit, dass 350 Kilometer weiter südlich, auf Kuba, ein Diktator stürzte, eine Revolution losbrach, ein Fidel Castro die Macht an sich riss. Bis sie plötzlich zu Tausenden mit Fähren und Flugzeugen ankamen. „La nata“, die Sahne, wie sie sich nannten – die politische und wirtschaftliche Elite Kubas. Sie ließen alles zurück und landeten mit wenig mehr als nichts.

Exil-Kubaner Mike Ugarte (Foto: Ricardo Herrgott)
Das Viertel, in dem sie sich ansiedelten, wurde bald zu „Little Havana“, einem gar nicht so kleinen Stück Kuba in Florida. Aus der achten Straße wurde die „Calle Ocho“, das brodelnde Zentrum von Little Havana. Und aus Miguel eben irgendwann Mike. Wer eine Vorstellung von Amerikas Zukunft bekommen will, ist hier am richtigen Ort. Miami ist in den fünf Jahrzehnten seit der Ankunft der Kubaner zur Glitzerstadt geworden. Von seinen nun schon drei Millionen Einwohnern sind zwei Drittel Latinos, also Lateinamerikaner – so viel wie in keiner anderen Metropole der USA. Was mit den Kubanern begann, ging mit Einwanderern aus Mexiko und halb Mittelamerika weiter. Heute haben nur noch 28 Prozent der Bewohner Englisch zur Muttersprache. Spanisch ist allgegenwärtig, ob im Radio, im Fernsehen oder auf den Schildern der Geschäfte.
Sich Clinton schönreden
Und doch würde es Mike Ugarte sonderbar finden, sein persönliches Dilemma nun nicht auf Englisch zu erläutern. Es besteht darin, dass er einen großen Tabubruch fürchtet. Ausgelöst hat ihn einer, dessen bloße Namensnennung allergische Reaktionen hervorruft: Donald J. Trump, Kandidat der Republikaner für das Präsidentenamt und in Mikes Rangliste der Antipathie unmittelbar hinter Fidel Castro. Mikes Problem: Er ist Republikaner. So wie die meisten Exilkubaner hier. Katholisch erzogen, längst erfolgreicher Unternehmer, mit der Familie als zentralem Wert. Was sonst als die Partei von Reagan und Bush wäre da all die Jahrzehnte infrage gekommen? Und nun setzen sie ihm einen Trump vor. Einen, der Latinos einfach so mal als Vergewaltiger, Drogendealer oder was sonst noch alles verunglimpft. Seither hadert Ugarte mit sich selbst. Streitet mit Freunden. Ist unruhig und versucht, sich das für ihn Unvorstellbare schönzureden: Hillary Clinton.

Estados Unidos – Latinos in Miami (Foto: Ricardo Herrgott)
Damit ist der Kern aller Gespräche erreicht. Er ist so heiß wie der Cortadito, der an allen Ecken getrunken wird. Amerika steht vor der Wahl zwischen der kühlen, kontrollierten und irgendwie nicht ganz sauber wirkenden Hillary Clinton und einem Donald Trump, der keiner näheren Beschreibung mehr bedarf. Schon gar nicht bei den Latinos, dem schlafenden Giganten der US-Wahlen.
55 Millionen von ihnen leben in den USA – das ist fast jeder fünfte Amerikaner, zehn Millionen mehr, als ganz Spanien Einwohner hat. Sie sind die größte und am schnellsten wachsende Minderheit, stellen schon jetzt mehr Bewohner als die Schwarzen und bleiben dennoch die große Unbekannte. Medial bewegt sich ihr Bild irgendwo zwischen Trumps „Vergewaltigern“ und dem Klischee von Salsa und Fiesta. Dabei ist ihre Geschichte vielfältiger und weitgehend unerzählt. Was daran liegt, dass es den einen Latino nicht gibt, die eine Erzählung unmöglich ist, da oben und unten bei keiner anderen Gruppe so weit auseinanderliegen. Oft ist das Einzige, was sie verbindet, ihre spanische Muttersprache.
Daher führt die Fahrt weit hinaus. Weg von einem wie Mike Ugarte, längst angekommen, etabliert, integriert und Teil einer neuen Oberschicht. Der Freeway schlängelt sich auf Stelzen nach Süden. Dorthin, wo noch Felder das Bild prägen, bevor die Sümpfe beginnen. Es sind kilometerlange Plantagen, nur unterbrochen von den hoch umzäunten Anwesen ihrer Besitzer, wo ein anderes Latino-Amerika anfängt. Kürbisse, Paradeiser und Zitronen gedeihen hier prächtig, und die Armee der sie Erntenden wird frühmorgens von Vorarbeitern in Pick-ups auf die Felder gebracht. Die Liste ihrer Herkunftsländer liest sich wie die Landkarte Lateinamerikas, von Mexiko im Norden bis Costa Rica ganz im Süden. Es bedarf Tausender, die sich in Florida als Arbeiter verdingen, und es braucht zumindest einen von ihnen, der auch darüber spricht.
Ihre Bewacher sehen Fremde nicht gern auf den Feldern. Sie gebärden sich unmissverständlich so, als gäbe es einiges zu verbergen. Was klar wird, als Ronny aus Guatemala und Hanibal aus El Salvador kurz innehalten. Hochblicken, sich verstohlen umschauen, um sicherzugehen, dass sie – ohne Konsequenzen fürchten zu müssen – kurz sprechen können. Nicht auf Englisch, denn davon beherrschen sie kein Wort. In den neun Jahren, die die beiden Männer schon hier sind, hat es für mehr als ein „Yes, sir“ nicht gereicht. Wie auch, wenn sich ihr Radius auf die Plantage und die Hütten an deren Rand beschränkt? Neun Jahre Amerika, sieben Tage die Woche auf dem Feld, acht Stunden am Tag, für sieben Dollar Lohn in einer Stunde. Die Männer sprechen hastig und leise, erzählen von Kindern, die sie zuletzt als Babys sahen, und von Frauen, die auf das Geld warten, das sie heimschicken. Selbst dorthin zu fahren, zumindest für ein paar Wochen, bleibt ein unerfüllter Traum. Wie soll das gehen? Sie sind Illegale, in die USA geschmuggelt von den „coyotes“, den Schleppern. Eine Fahrt in die Heimat würde für sie so auch nach neun Jahren USA zu einer Reise ohne Wiederkehr.

Ronny und Hanibal – illegal in Amerika (Foto: Ricardo Herrgott)
Eine halbe Million solcher illegaler Einwanderer aus Lateinamerika kommt jedes Jahr neu an. Geschätzte elf Millionen von ihnen befinden sich schon im Land – und in ständiger Furcht, aufgegriffen und abgeschoben zu werden. Ihretwegen fordert Trump die Mauer, die er an der Grenze zu Mexiko hochziehen will. Die Einwanderer selbst möchte er in Nacht-und-Nebel-Aktionen aufspüren, abholen und außer Landes befördern lassen.
Ronny und Hanibal haben den Namen Trump noch nie gehört. Auch von Obama und dessen uneingelöstem Versprechen, die Einwanderungsgesetze zu liberalisieren, ahnen sie nichts. Dafür wissen sie eines ganz sicher und sagen es auch offen: „Amerika ist ein gutes Land. Hier können wir arbeiten, Geld verdienen und es nach Hause schicken. Wäre die Lage daheim besser, wären wir nicht hier.“
Der Schmelztiegel stinkt
José Hernández kennt diese Geschichten. Sie gehören quasi zu seinem Geschäft, und die Diskussionen darüber füllen sein Blatt. Er ist Journalist, Chefredakteur des „El Venezolano“, einer Zeitung, die seit 24 Jahren für die 300.000 Venezolaner in Florida erscheint. „Die Feldarbeiter stehen ganz unten auf der Leiter. Aber im Unterschied zu ihrer Heimat haben sie hier die Chance, hochzuklettern.“ Hernández sieht sich selbst als lebender Beweis für seine These. In Venezuela war er schon einmal ganz oben, reiste er als Diplomat an der Seite von Präsident Chávez um die Welt. Bis die Warnung kam. Sie war simpel und unmissverständlich und lautete: „Verschwinde!“ Bis heute kann er sich nicht erklären, bei wem er in Ungnade gefallen war. Was hingegen geschehen wäre, hätte er nicht Hals über Kopf die Flucht ergriffen, ist ihm dafür kein Rätsel. „Peng, peng – ganz einfach.“
Umso mehr gerät Hernández über die USA ins Schwärmen. Preist das Land als Ort, an dem Integration funktioniert. „Schaut raus!“, ruft er und deutet aus dem Fenster des Hochhauses am Rande von Miami, „hier war nichts außer Sümpfen und Alligatoren. Heute ist es die Boomstadt.“ Folgt man seinem Rezept, ist Integration einfach: Wenn du in irgendetwas gut bist, wirst du es hier schaffen. Du findest leicht Jobs, du musst nur wollen und hart dafür arbeiten, denn geschenkt wird dir nichts. Mit dem, was er sagt, ist Hernández längst durch und durch Amerikaner. Im Unterschied zu Europa können Einwanderer hier kaum auf Sozialleistungen hoffen. Wollen sie aufsteigen, sind sie gezwungen, rasch Englisch zu lernen. Integration wird so fast überlebensnotwendig. Aus der Mühe, die sie abverlangt, speisen sich aber später der Stolz auf die eigene Leistung und eine neue Identität: als US-Amerikaner mit Latino-Wurzeln.

Fiesta in Miami (Foto: Ricardo Herrgott)
Zugleich ist Hernández ein Realist, der die Augen nicht vor Problemen verschließt. Weder vor der Kriminalität noch vor all dem, was Trump implizit mit Einwanderung verbindet. „Aber das ist er eben, der Schmelztiegel – manchmal stinkt er gewaltig und ist nicht schön anzusehen, aber es ist ein Experiment, und am Ende funktioniert es.“ Mit Trump braucht man Hernández nicht zu kommen, „der ist doch selbst ein Sohn von Immigranten. Wie jeder hier, der kein Indianer ist.“ Mit einer abfälligen Handbewegung bewertet Hernández daher Trumps Siegeschancen. Amerika strebe immer nach vorne, schaue nie zurück. Das täte nur einer – Señor Trump.
Umfragen unter Latinos legen nahe, dass Hernández recht hat. 74 Prozent von ihnen wollen diesmal für Clinton stimmen. Bloß blieb es früher oft beim Bekenntnis, tatsächlich wählen ging nur die Hälfte. Trump könnte es ungewollt gelungen sein, dies durch seine Hetztiraden zu ändern.
Die Latina-Schönheit
Mit den Latinos tritt ein Grundkonflikt im Amerika der Gegenwart zutage. Viele Weiße, die Trump unterstützen, fürchten, das ihnen vertraute Land allmählich zu verlieren. Im Aufstieg der Latinos sehen sie einen Vorboten ihres eigenen Abstiegs. Die Latinos begreifen im Gegenzug, dass sie von der Minderheit zum Machtfaktor geworden sind. Ohne ihre Stimmen wird künftig kein Kandidat mehr US-Präsident. Das spiegelt sich auch im Wahlkampf wider. Während ein Trump noch glaubt, es würde reichen, auf Twitter ein Selfie von sich vor einem Taco zu posten, um ihre Unterstützung zu gewinnen, umwerben die Demokraten die Community geschickter. So hat Tim Kaine, Clintons Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, mit seinem fließenden Spanisch für Anerkennung gesorgt. Bei jeder seiner Reden stellt er seine Sprachkenntnis unter Beweis, wechselt salopp zwischen Englisch und Spanisch und plaudert gern über seine Zeit als katholischer Missionar in Honduras. Das hinterlässt Eindruck und schafft gute Presse.
Umgekehrt erweist sich die Angst vieler Weißer, Amerika würde bald zu einem spanischsprachigen Land werden, als übertrieben. Bräuchte es eine Stimme und ein Gesicht des künftigen Amerika, Lelany Barea wäre beides. Im weißen Kleid und einer silbernen Krone im langen schwarzen Haar steht die 25-Jährige auf der Calle Ocho. Umspült vom Trubel, der dort herrscht. Umweht von den Gerüchen der Garküchen und Grillstationen. Und umworben von Burschen, die „Ey, chica“ zischen. Lelany Barea ist die regierende „Miss Carnaval“ und „Miss Florida“ in spe. Sie gibt Interviews, mal auf Englisch, dann wieder auf Spanisch, als sei es das Normalste der Welt. Und das ist es für die in den USA geborene Tochter von Exilkubanern auch. Die Marketingmanagerin ist schön, schlau und ein wenig angewidert von Trump. Für sie gilt, was Sedano’s, die größte Latino-Supermarktkette Floridas, als Leitspruch führt: „Mit dem Besten von hier und dem Besten von dort.“
Mit Trump auf Du und Du
Wäre es so einfach, hätte auch Luigi Boria weniger Sorgen. Er ist der erste aus Venezuela stammende Bürgermeister der USA, und Donald Trump ist sein größter Steuerzahler. Doral heißt die aufstrebende Stadt gleich hinter dem Flughafen von Miami, der Boria vorsteht. Trump besitzt dort ein luxuriöses Golfresort und beschäftigt Hunderte Mitarbeiter.
Boria ist ein zurückhaltender, fast scheuer Mann. Wie so viele Latinos, deren erste Heimat in den gefährlichsten Staaten der Welt lag, prägte Gewalt seine Kindheit. Sein Vater wurde in Caracas von einem Einbrecher erschossen, als Boria 15 war. Später wanderte er in die USA aus und brachte es zum mehrfachen Millionär. Für Trump bleibt Boria trotzdem ein Niemand, und er lässt ihn dies auch bei jedem Zusammentreffen spüren. „Dabei gibt es nur eine Welt, und wir alle müssen lernen, in dieser gemeinsam zu leben“, sagt Boria, fast entschuldigend. „Señor Trump sieht nicht eine, sondern nur seine Welt.“ Die Ehrenbürgerschaft von Doral hätte Trump schon entzogen werden sollen. Aber Bürgermeister Boria stimmte am Ende dagegen. Vielleicht weil er ahnt, dass Trump bald wieder mehr Zeit zum Golfspielen bleibt.
Erschienen in News 37/2016